Züge zur inneren und äußeren Naturbeherrschung im Zuge einer politischen Emanzipation sind nicht nur der internationalen Arbeiterbewegung zuzuschreiben, sondern diese Konturen zeichnen sich bereits in der bürgerlichen Befreiung gegen den Feudaladel ab.
Von Heinz Ahlreip, 29. September 2024, 11:16 h | Ideologisch-personell lässt sich diese Opposition an den in ihren Werken zum Ausdruck kommenden Weltanschauungen von Thomas von Aquin und Galileo in Relation zum Naturbegriff ausmachen. Der Ideologe des papistischen Katholizismus schätzte die Natur als für den Menschen unberechenbar ein, es könne folglich nur verschwommene Naturwissenschaften beobachtender und experimenteller Art geben. ‘Nein‘ sagte der materialistische Naturforscher, Physiker und Astronom Galilei als Begründer der mathematischen Naturwissenschaft der Neuzeit, ‘die Natur ist mathematisch exakt berechenbar‘. Die Naturlehre und die Industrie trieben die Überbauwissenschaften voran. Für Galileis Zeitgenossen Francis Bacon wurde die Natur vom Menschen besiegt und diente seinem ausbeutungsmissionarischen Business. Descartes sah die Wissenschaftler als militante Krieger, die der Natur erfolgreich Feldschlachten lieferten und ihr ein Feld nach dem anderen entreißen und öffnen. Die arbeitende Menschheit als Geschöpf der Natur war gegenarbeitend auf dem Weg zu ihrer Beherrschung. Die menschliche Arbeit würdigt die Natur auf, adelt sie, wie Georg Forster weiß. Die mechanischen Materialisten sahen die Natur als in sich vernünftige; die objektiven Idealisten im Kreis um Hegel antinomisch dazu die Geschichte. Aus der Kampfstellung gegen die damals progressive Bourgeoisie, kontra dem dekadenten Adel und aus der Frontstellung kontra einem scholastischen Akademismus, ergab sich noch kein historischer Materialismus. Keiner im Sinne von Marx, dem es um die Aufsprengung jeglich versklavender Naturwüchsigkeit geht. Aber es war immerhin eine Historisierung der Natur, zumindest um einen Fortschritt in der Weltanschauung.
Als der Funke des Antiakademismus auf die analphabetischen Sansculotten übersprang, das war 14 Tage nach dem Sturm auf die Bastille
(Vergleiche Wolf Lepenies, Historisierung der Natur und Entmoralisierung der Wissenschaften seit dem 18. Jahrhundert, in: Wolf Lepenies, Gefährliche Wahlverwandtschaften, Reclam Verlag, Stuttgart, 1989,23),
..fing man an, feudale Akademien zu schleifen, was im Schatten des Sturms auf die Bastille weniger bekannt wurde. Theoretisch ging der Antiakademismus auf Rousseaus ersten Diskurs über die Wissenschaften und Künste zurück, die Geschichte der Wissenschaften bringe nur eine Handvoll Koryphäen hervor, die Volksmassen haben keine andere Wahl, als bildungsschwach zu bleiben. In der Ungebildetheit, so die Vorstellung, liege deren Tugend. Tatsächlich wurden aber auch Koryphäen guillotiniert: Zum Beispiel der girondistisch-idealistische Philosoph Condorcet, der in der Entwicklung der menschlichen Vernunft die Quelle des gesellschaftlich-historischen Fortschritts sah, zum Beispiel der Chemiker Lavoisier, der den Sauerstoff und das Silizium entdeckt hatte.
Die Wissenschaftspolitik der Pariser Jakobiner war indessen ambivalent. Einerseits die rousseausche bildungsfeindliche unter subtile Unterwürfigkeit, andererseits eine Durchpolitisierung des Wissenschaftsapparates, um ihn in den Dienst der bürgerlichen Revolution zu stellen.
(Vergleiche a.a.O.,24).
Qualitativ anders gestaltet sich das Verhältnis der Wissenschaftlichkeit zu einer gesellschaftlichen Vorwärtsbewegung in der Phase des Kapitalismus und seinem höchsten Stadium, dem Imperialismus. Marx und Engels, später Lenin und Stalin, sahen sich verpflichtet, im 19. und 20. Jahrhundert verantwortlich zu sein, dass es zu einer Symbiose des wissenschaftlichen Sozialismus mit der trade-unionistischen Arbeiterbewegung komme. Marx und Engels wandten sich in den 40er Jahren gegen den damaligen Führer der deutschen Arbeiterbewegung Wilhelm Weitling, der den Sozialismus mit der christlichen Bibel untermauerte.
Proletarische Bildungsvereine blieben nicht auf den europäischen Kontinent beschränkt. Oberflächlich betrachtet lassen sich durchaus Parallelen zum Bildungsvorbehalt des Jakobinismus konstruieren. In einem Brief von Engels vom 19. April 1890:
„ . . die Bewegung“ (der Arbeiterklasse in England) „geht unter der Oberfläche fort, ergreift immer weitere Schichten, und grade meist unter der bisher stagnierenden untersten“ (hervorgehoben von Engels) „Masse, und der Tag ist nicht mehr fern, wo diese Masse plötzlich sich selbst findet, wo es ihr aufleuchtet, dass sie diese kolossale sich bewegende Masse ist.“
(Lenin, Der Imperialismus und die Spaltung des Sozialismus, Werke, Band 23, Dietz Verlag Berlin, 1960,110).
Ein weiteres Zitat von Engels in Lenins Broschüre aus dem Oktober 1916 sei angebracht:
„Die Mitglieder der „neuen“ Unionen, der Organisationen ungelernter Arbeiter, „haben diesen einen unermeßlichen Vorteil: Ihre Gemüter sind noch jungfräulicher Boden, gänzlich frei von den ererbten, respektablen‘ Bourgeoisvorurteilen, die die Köpfe der bessergestellten, alten Unionisten‘ verwirren“.
(a.a.O.).
Gemäß dem vom Marxismus-Leninismus vorgegeben historischen Auftrag der Arbeiterklasse kann diese nur dann siegen, wenn sie Unwissenheit in Wissen verwandelt und ständig ihr marxistisch-leninistisches Profil schärft. Dem wissenschaftlichen Sozialismus ist eine allseitige Bildung innewohnend. Die bürgerlich-jakobinistische spezialisiert sich gemäß den Kapitalinteressen. Und so kehrt sich die von den Deisten proklamierte Unzerstörbarkeit der Natur um. Sie kann heute per Knopfdruck ausgelöscht werden. Stand es 1755 nach dem verheerenden Erdbeben von Lissabon noch „auf Kipp“, auf die beste aller Welten von Leibniz zu sinnen oder auf das nüchterne ‘Wir müssen unseren Garten kultivieren‘ von Voltaire, so ist es nach Hiroshima ausgemacht: Der bürgerliche Mensch, die Krone der Schöpfung, ist technisch in der Lage, diese zu zerstören. Es gehört zu den Eigentümlichkeiten des 18. Jahrhunderts.
Welches, wie man sich einbildete, der ausgebildeten Vernunft, der französische Naturforscher in der Periode der bürgerlichen Aufklärung und des mechanischen Materialismus, Georges-Louis Leclerc de Buffon, zwar Darwin antizipierend vertrat, dass in der Entwicklung der Menschheit alles naturgesetzlich vor sich gehe, er daraus aber keine atheistischen Schlussfolgerungen zog, sondern einer vernunftsgemäßen Zusammenfassung.
Eine höhere Macht als der Mensch habe in der Manier eines Uhrmachers zwar die Welt geschaffen und aufgezogen, sodann aber keinen weiteren Einfluss darauf hatte, wie die Welt mechanisch tickt. Für Engels waren die französische Aufklärung und die französische Revolution halbe Sachen. Wir sehen hier einen Grund warum.
Ein Weiterer bestand darin, dass vor 1830 weder eine Klassen- noch eine Klassenkampftheorie vorlagen. In Opposition zum mechanischen Materialismus geriet der Dialektiker Rousseau, ohne aber ebenfalls in der Lage zu sein, atheistische Schlussfolgerungen zu ziehen. Für ihn war die Natur unbezwingbar. Es genügt, seinen Émile aufzuschlagen und das Lesen des Buches, mit den ersten Zeilen zu beginnen. Ihm ist ein Spruch Senecas vorangestellt:
„Die Übel, an denen wir leiden, sind heilbar; wenn wir uns davon befreien wollen, hilft uns die Natur selbst, denn wir sind zum Gesundsein geboren.
(Seneca, Über den Zorn).
Doch gleich kommt Rousseau selbst:
„Alles ist gut, wie es aus den Händen des Schöpfers kommt; alles entartet unter den Händen des Menschen. Der Mensch zwingt ein Land, die Erzeugnisse eines anderen hervorzubringen, einen Baum, die Früchte eines anderen zu tragen. Er vermengt und vertauscht das Wetter, die Elemente und die Jahreszeiten. Er verstümmelt seinen Hund, sein Pferd, seine Sklaven. Alles dreht er um, alles entstellt er. Er liebt die Mißgeburt, die Ungeheuer. Nichts will er haben, wie es die Natur gemacht hat, selbst den Menschen nicht. Man muß ihn, wie ein Schulpferd, für ihn dressieren; man muß ihn nach seiner Absicht stutzen wie einen Baum seines Gartens“.
(Jean-Jacques Rousseau, Émile oder Über die Erziehung, Ferdinand Schöningh, Paderborn, München, Wien, Zürich, o.J.,9).
Um zum Hauptideologen des Jakobinismus zu werden, war ein Rückgriff auf antikes Gedankengut geboten, der Kult der Natur verbal auf den Thron zu heben. Beides lag hier vor. ‘Au nom de la nature‘ wurde zum geflügelten Wort. So kam es, dass der glühende Rousseau Verehrer einer heiligen Hetzjagd gegen die Atheisten wurde. Der Kleinbürger Robespierre, der für viele der unerreichbare Lehrer der Menschheit war, im Namen der unbesiegbaren Natur, von einer heiligen Hetzjagd inspiriert wurde. Wieder so eine vortreffliche Halbheit, diesmal praktisch-politisch.
Im 20. Jahrhundert wird ein dahergelaufener Sozialdemokrat Willy Brandt mit dem Radikalenerlass in seine Fußstapfen treten.Zugegeben, einige Schuhgrößen kleiner. Denn die Französische Revolution glich dann doch einem Naturereignis, nicht nur im Selbstverständnis der Jakobiner. Schiller sah in Paris einen Lava sprühenden Krater am Werk. Es liegt im Charakter halber Revolutionen, dass die Adjektive `natürlich‘ und ‘pervers‘ ineinander changieren.
Auch die feudale Konterrevolution bezog sich auf die Güte bzw. auf das Gute der Natur, um 1789 als Abfall vom Absoluten, als Sünde, als pervers zu geißeln. Es beginnt bereits mit Michelet, der die sogenannte Phase des Terrors als widernatürlich bezeichnete. Vollends der Restaurationsphilosoph, der Engländer Edmund Burke, er skandalisierte die Revolution: Alles sei durch sie aus den Gleisen der Natur geworfen worden. Der Pamphletist der Konterrevolution deutet die Kriegserklärung gegen den Feudaladel als eine gegen die Gesamtnatur. Wir sehen, dass auch die Konterrevolution ‘au nom de la nature‘ predigt. In Klassenkampfgesellschaften bildet sich das Verhältnis Natur und Krieg assoziativ. Es liegt, in den Händen der großen Mehrheit der Proletarier durch ihre Vereinigung gegen die kapitalistische Minderheit einen gesellschaftlichen Zustand herbeizuführen, in dem gilt: Der…
„Kommunismus ist als vollendeter Naturalismus Humanismus, als vollendeter Humanismus Naturalismus, er ist die wahrhafte Auflösung des Widerstreites zwischen dem Menschen mit der Natur und mit dem Menschen, die wahre Auflosung des Streits zwischen Existenz und Wesen, zwischen Vergegen-ständlichung und Selbstbestätigung, zwischen Freiheit und Notwendigkeit, zwischen Individuum und Gattung. Er ist das aufgelöste Rätsel der Geschichte und weiß sich als diese Lösung“.
(Karl Marx, Ökonomisch-Philosophische Manuskripte, Ergänzungsschriften, Band 1, Dietz Verlag Berlin, 1960,536).
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