Ist der Marxismus-Leninismus eine Naturwissenschaft?

Gesellschaft unterliegt Naturgesetzen – aber nicht blind

Der Marxismus-Leninismus vertritt im weltweiten ideologischen Klassenkampf die Auffassung, dass die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft grundlegend Naturgesetzen unterliegt. Diese Bestimmung tritt unter anderem im Vorwort zur ersten Auflage von Das Kapital vom 25. Juli 1867 deutlich hervor. Marx spricht dort von den Naturgesetzen der Produktion, konkret von den Naturgesetzen der kapitalistischen Produktionsweise. Er betont, dass die Gesellschaft mit ihren zunächst beschränkten, aber zunehmend präziseren wissenschaftlichen Mitteln fähig ist, diese Naturgesetze ihrer Bewegung zu erkennen. Als Endzweck seines Werkes bezeichnet er die Enthüllung der ökonomischen Bewegungsgesetze der modernen Gesellschaft. (Vgl. Karl Marx, Das Kapital, Werke, Band 23, Dietz Verlag Berlin, 1960, S. 15f.)

Von Heinz Ahlreip, 2. Mai 2025 | Die Enthüllung – ein zentrales Konzept im Marxismus-Leninismus – bezeichnet das wissenschaftliche Herausarbeiten des Wesens unter dem Wust der Erscheinungen, mit denen wir es zunächst zu tun haben.

 

Ideologische Formen und materielle Umwälzungen

Eine besonders aufschlussreiche Darstellung des wissenschaftlichen Charakters des Marxismus-Leninismus findet sich im Vorwort zu Zur Kritik der politischen Ökonomie aus dem Jahr 1859:

„In der Betrachtung solcher Umwälzungen muss man stets unterscheiden zwischen der materiellen, naturwissenschaftlich treu zu konstatierenden Umwälzung in den ökonomischen Produktionsbedingungen und den juristischen, politischen, religiösen, künstlerischen oder philosophischen, kurz, ideologischen Formen, worin sich die Menschen dieses Konflikts bewusst werden und ihn ausfechten. Sowenig man das, was ein Individuum ist, nach dem beurteilt, was es sich selbst dünkt, ebensowenig kann man eine solche Umwälzungsepoche aus ihrem Bewusstsein beurteilen, sondern muss vielmehr dies Bewusstsein aus den Widersprüchen des materiellen Lebens, aus dem vorhandenen Konflikt zwischen gesellschaftlichen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen erklären.“
(Karl Marx, Zur Kritik der politischen Ökonomie, Werke, Band 13, Dietz Verlag Berlin, 1960, S. 9)

Nur die Umwälzungen in den ökonomischen Grundlagen lassen sich also „naturwissenschaftlich treu“ feststellen.

 

Keine bewusste Natur – aber bewusste Gesellschaft?

Ist die Entwicklungsgeschichte der Gesellschaft identisch mit der Naturgeschichte? Nein. Die Natur entfaltet sich ohne Bewusstsein und ohne gewollte Zwecke. Ihre Gesetze treten unbewusst hervor.

(Vgl. Friedrich Engels, Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie, Werke, Band 21, Dietz Verlag Berlin, 1960, S. 296)

Bei der Gesellschaft jedoch ist die Lage anders: Auch sie folgt inneren Gesetzen, doch diese sind unter den Bedingungen ökonomischer Ausbeutungsverhältnisse nicht direkt sichtbar. Im Kapitalismus etwa sind die Menschen den Schwankungen von Angebot und Nachfrage ausgesetzt – dem Zufall und seiner permanenten Wiederkehr. Engels schreibt:

Nur selten geschieht das Gewollte; in den meisten Fällen durchkreuzen und widerstreiten sich die vielen gewollten Zwecke.
(Vgl. ebd., S. 296f.)

Insofern besteht eine gewisse Analogie zur Naturgeschichte, jedoch mit grundlegend anderem Charakter.

 

Die Natur verbirgt sich – und die Gesellschaft ebenso

Bereits der antike Materialist Heraklit stellte fest, dass „die Natur es liebt, sich zu verbergen“. Dieses Prinzip trifft auch auf die Gesellschaft zu – zumindest bis zur Veröffentlichung von Das Kapital, das die verborgenen Gesetze erstmals systematisch offenlegte. Die Vertiefung des Wissens über die Natur ist stets auch eine Vertiefung des Wissens über die Gesellschaft – und umgekehrt.

Der Marxismus-Leninismus hat die Gesellschaftswissenschaften auf ihren ökonomischen Grund zurückgeführt. Lenins Analyse des Imperialismus stellt dabei keine Abkehr vom Marxismus dar, sondern eine Weiterentwicklung – eine ergänzende Schrift zum Kapital. Der Imperialismus ist keine eigene Gesellschaftsformation, sondern das höchste Stadium des Kapitalismus.

 

Der Kommunismus: Kein Ideal, sondern Konsequenz

Auch der Kommunismus ist im Marxismus-Leninismus keine „Idealgesellschaft“, sondern das Ergebnis der enthüllten Bewegungsgesetze. Seine Grundlage ist nicht Utopie, sondern Erkenntnis. Lenin schreibt in Staat und Revolution:

„Wir sind keine Utopisten und leugnen durchaus nicht die Möglichkeit und Unvermeidlichkeit von Ausschreitungen einzelner Personen und ebensowenig die Notwendigkeit, solche Ausschreitungen zu unterdrücken. Aber erstens bedarf es dazu keiner besonderen Maschine, keines besonderen Unterdrückungsapparates; das wird das bewaffnete Volk selbst mit der gleichen Selbstverständlichkeit und Leichtigkeit bewerkstelligen, mit der eine beliebige Gruppe zivilisierter Menschen sogar in der heutigen Gesellschaft Raufende auseinander bringt oder eine Frau vor Gewalt schützt.“
(Lenin, Staat und Revolution, Werke, Band 25, Dietz Verlag Berlin, 1960, S. 478)


Die kommunistische Gesellschaft braucht keine Gesellschaftswissenschaft

Am Ende bleibt ein radikaler Gedanke zu durchdenken: Die kommunistische Gesellschaft könnte eine Gesellschaft ohne Gesellschaftswissenschaften sein – weil sie keine entfremdeten, verschleierten Verhältnisse mehr zu analysieren hätte.


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Über Heinz Ahlreip 140 Artikel
Heinz Ahlreip, geb. am 28. Februar 1952 in Hildesheim. Von 1975 bis 1983 Studium in den Fächern Philosophie und Politik an der Leibniz Universität Hannover, Magisterabschluss mit der Arbeit »Die Dialektik der absoluten Freiheit in Hegels Phänomenologie des Geistes«. Forschungschwerpunkte: Französische Aufklärung, Jakobinismus, Französische Revolution, die politische Philosophie Kants und Hegels, Befreiungskriege gegen Napoleon, Marxismus-Leninismus, Oktoberrevolution, die Kontroverse Stalin – Trotzki über den Aufbau des Sozialismus in der UdSSR, die Epoche Stalins, insbesondere Stachanowbewegung und Moskauer Prozesse.

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