Reformen oder Revolutionen?

Reform oder Revolution ist die Frage nach Kapitalismus oder Sozialismus? | Photo: Videoscan YouTube

Die Bourgeoisie ruft nach Reformen – der Kommunist nach Revolution

Im Oktober 1916 verfasste Lenin eine kleine, aber inhaltsreiche Studie mit dem Titel Der Imperialismus und die Spaltung des Sozialismus. Wenn daraus die Schlussfolgerung gezogen wird, Spaltungen revolutionärer Bewegungen seien eine spezifische Eigenschaft im höchsten Stadium des Kapitalismus, so wäre das eine falsche Schlussfolgerung.

 

Heinz Ahlreip 

 

 

Von Heinz Ahlreip 
25. Mai 2025 |

 

Die Lektionen der französischen Revolution

Schon in der klassischen französischen Revolution, die vom pfäffischen Feudalismus zum bürgerlichen Kapitalismus durchbrach, eruierten sich im revolutionären Lager zwei entgegengesetzte bürgerliche Strömungen: die Jakobiner, auch der Berg genannt, und die Girondisten, auch bürgerliche Gironde genannt. Der ideologisch auf Rousseau zurückgehende Jakobinismus war eine Strömung der konsequenten Revolutionäre, die die völlige Vernichtung des Klerus und des Adels forderten. Wir Marxisten-Leninisten müssen heute die völlige Vernichtung der Bourgeoisie ohne Wenn und Aber fordern, wie es uns Lenin im September 1917 in seinem politischen Hauptwerk Staat und Revolution zur Aufgabe gemacht hat. ¹

Die ideologisch auf Voltaire zurückgehenden Girondisten waren weniger konsequent, sie schwankten, pendelten zwischen Revolution und Konterrevolution hin und her, um letztendlich umzufallen zum Paktieren mit historisch überholten monarchischen Kreisen. Lenin wandte die Bezeichnungen Berg und Gironde auch auf die Sozialdemokratie an, er sprach von einer sozialistischen Gironde und einem sozialistischen Berg und traf damit denunzierend die labilen Opportunisten und positiv hervorhebend seine Anhänger, kurz: Er wandte sie an auf den Menschewismus und den Bolschewismus. Öfters betonte Lenin, dass die Menschewiki die girondistische Strömung in der Arbeiterbewegung darstellen.

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Spaltung als Grundkonstante

Natürlich liegt eine Spaltung auch heute vor, eine in einen konterrevolutionären Sozialdemokratismus und eine in einen revolutionären Kommunismus. Deshalb ist ja Lenins kleine Studie Der Imperialismus und die Spaltung des Sozialismus so unheimlich aktuell. Erforderlich ist, dass heute die prinzipielle Unvereinbarkeit zwischen Kommunismus und Sozialdemokratismus geklärt ist. Immer wieder versuchen kleinbürgerliche Elemente, fasziniert von der Arbeiterbewegung, den Berg zu erklimmen, immer wieder fallen sie mit dem Rücken bergab in den kleinbürgerlichen Sumpf zurück, wie die Girondisten in den Monarchismus zurückfielen.

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Reformrhetorik im Angesicht des Dritten Weltkriegs

Im sich anbahnenden Dritten Weltkrieg, langsam, qualvoll, aber unaufhaltsam, immer mehr Wunden aufreißend, ein Zündeln an immer mehr Kriegsherden, Manöver folgt auf Manöver, wird die Bourgeoisie, um deren Überleben auf Kosten von Millionen gefallener Arbeiter und Bauern es im Dritten Weltkrieg geht, immer lauter nach Reformen schreien. Was wird nicht alles verbal am sinkenden Schiff als reparaturbedürftig bezeichnet! Am 16. März 2025 äußerte sich Friedrich Merz in der Tagesschau: Wir stehen jetzt wirklich vor großen Reformvorhaben unseres Staates. Er sprach von 30 Reformen, unter anderem Abbau der Bürokratie, da dürfe man von der neuen Bundesregierung einen großen Wurf erwarten, preisgünstiges Bauen, Klimaneutralität, Mütterrente. Er wies auf die Initiative für einen funktionsfähigen Staat hin, mit der die Bundesregierung zusammenarbeitet. Der Staat müsse wieder funktionieren. Der heutige Staat ist nun aber einmal ein nationales Kriegswerkzeug des Kapitals gegen die Arbeit, und Merz hat insofern Recht, als der Tötungshunger der Bourgeoisie nach Proletenkörpern innen- und außenpolitisch immer gieriger wird – innen vornehmlich People of Color, außen auf kommende, schwer zu berechnende NATO-Schlachtfelder.

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Der große Wurf der Bourgeoisie: Krieg nach innen und außen

Die Äußerungen von Merz schlagen sich selbst ins Gesicht. Der große Wurf beim Bürokratieabbau kann nur im Zerbrechen der bürokratisch-militärischen Maschine liegen, wie es uns die Pariser Kommune vorgemacht hat. Merz intendiert das Gegenteil, keineswegs wie die Pariser eine Rücknahme der Staatsgewalt durch die Gesellschaft.

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Sozialdemokratische Flickschusterei statt Klassenkampf

Je mehr sich die Systemkrise vertieft, umso mehr wird vornehmlich aus sozialdemokratischem Munde nach Flickwerk geschrien, um mit solchen stumpfen Mitteln das untergehende ökonomische Ausbeutungssystem, ihr System, zu retten. Der Liberalismus hat als Köder, als Linsengericht gegen den Sozialismus ausgedient. Die Ideologen der Bourgeoisie sehen sich gezwungen, Reformen ins Feld zu führen, die angeblich sozial sein sollen. Alles, was im Imperialismus nicht von der Arbeiterbewegung ausgeht, kann nur asoziale Auswirkungen haben. Bürgerliche Ideologen sind aufgrund der Klassenkonstellationen gezwungen, das kapitalistische System als überhistorisch darzustellen, es gegen alle dialektische Vernunft als ewiges System zu verzerren. Immer mehr kommt der schäbige Charakter des Sozialdemokratismus zum Vorschein. Reformen sind, wie gesagt, eine Spezialität des volksbetrügerischen Sozialdemokratismus, dessen linke und rechte Spielarten durchleuchtet werden müssen. Was will die SPD nicht alles reformieren, um das Kopffassen des wissenschaftlichen Sozialismus zu verhindern. Der Verzicht auf den Liberalismus, diesen zum alten Eisen geworfen zu haben, zeigt uns den Fortschritt des Sozialismus an, der sich in der bürgerlichen Gesellschaft zunächst auch als geheimer ausfalten kann. Dass immer mehr Reformen hochkommen, zeigt uns doch an, dass das Wasser sich mehr und mehr der Höhe des Systemhalses nähert. Es ist bürgerliche Illusion, durch Reformen den Untergang abwenden zu können.

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Reformideologie als Herrschaftsinstrument

Die Bourgeoisie erkennt die Unvermeidlichkeit ihres Untergangs an² und muss Plejaden von Reformideologen ins ideologische Kampfgebiet gegen den wissenschaftlichen Sozialismus werfen. Sie sind geschult und geübt, die Arbeiterklasse von ihrer weltgeschichtlichen Mission abzubringen. Marx und Engels hatten schon 1845/46 in der Deutschen Ideologie erläutert, dass nur das Proletariat Geschichte in Weltgeschichte verwandeln kann.

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Lehren der Kommune und der Verrat der SPD

1871 war das in Paris der Fall. Es ist in diesem Zusammenhang wenig bekannt, dass Marx und Engels während der Pariser Kommune versuchten, Südfrankreich zur Insurrektion zu bringen, um ganz Frankreich zur Kommune zu machen. Dem Proletariat werden heuchlerische Zugeständnisse gemacht, die kein entscheidendes weltpolitisches Wendepotenzial entfalten können. Die SPD punktet mit der Verbesserung der Lohnsklaverei, ohne ihre Abschaffung vor der Arbeiterklasse überhaupt zu thematisieren. Dabei haben Marx und Engels alles getan, um das Proletariat der ganzen Welt über die alltäglichen Groschenaufgaben zu erheben. ³

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Reformen oder Revolution?

Die SPD folgt dem Kurs Bernsteins: Die Bewegung ist alles, eine Bewegung, unter der die Dialektik erstickt, das Endziel ist nichts. Will sagen: Der Kommunismus ist nichts. Die Arbeiter sollen als brave Kinder bescheiden an Reformen arbeiten und sich keinen Sprung aus dem Reich der Notwendigkeit in das Reich der Freiheit ausdenken.

1. Vergleiche Lenin: Staat und Revolution, Werke, Band 25, Dietz Verlag Berlin,
1960, Seite 425.
2. Vergleiche Lenin: Der Reformismus in der russischen Sozialdemokratie, Werke,
Band 17, Dietz Verlag Berlin, 1960, Seite 217.
3. Vergleiche Lenin: Vorwort zur russischen Übersetzung des Buches: Briefe und
Auszüge aus Briefen von Joh. Phil. Becker, Jos. Dietzgen, Friedrich Engels, Karl
Marx u. A. an F. A. Sorge und Andere, Werke, Band 12, Dietz Verlag Berlin, 1960,
Seite 376.


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Über Heinz Ahlreip 148 Artikel
Heinz Ahlreip, geb. am 28. Februar 1952 in Hildesheim. Von 1975 bis 1983 Studium in den Fächern Philosophie und Politik an der Leibniz Universität Hannover, Magisterabschluss mit der Arbeit »Die Dialektik der absoluten Freiheit in Hegels Phänomenologie des Geistes«. Forschungschwerpunkte: Französische Aufklärung, Jakobinismus, Französische Revolution, die politische Philosophie Kants und Hegels, Befreiungskriege gegen Napoleon, Marxismus-Leninismus, Oktoberrevolution, die Kontroverse Stalin – Trotzki über den Aufbau des Sozialismus in der UdSSR, die Epoche Stalins, insbesondere Stachanowbewegung und Moskauer Prozesse.