Am 12. Dezember 2001 starb Achidi John in Hamburger Polizeigewahrsam

Rote Flora in Hamburg
Vor 20 Jahren starb Achidi John in Hamburg an den Folgen eines gewaltsamen Brechmitteleinsatzes in Polizeigewahrsam. Eingeführt wurde diese Methode zur Beweissicherung auf Betreiben des ­damaligen Innensenators und heutigen Bundeskanzlers Olaf Scholz. Die Verantwortlichen mussten sich nie einem Verfahren stellen.

Von Anke Schwarzer – 14. Dezember 2021|

Gefahr für die innere Sicherheit
Am 12. Dezember jährt sich der Todestag von Achidi John zum 20. Mal. Der junge Mann starb 2001 in Polizeigewahrsam infolge eines gewaltsamen Brechmitteleinsatzes nach einer Festnahme wegen des Verdachts auf Drogenhandel. Doch in Hamburg ist man von einer Aufarbeitung weit entfernt. Bis heute haben weder die Hamburger Politik noch die Polizei, die Justiz oder das Universi­tätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) Verantwortung für den menschenrechtswidrigen und tödlichen Einsatz von Brechmitteln bei mutmaßlichen Drogendealern übernommen. Allein zwischen 2001 und 2006 mussten über 530 junge Männer – in aller Regel Schwarze – Brechmittel einnehmen.
Im Sommer 2001 hatte die damalige rot-grüne Regierungskoalition den Einsatz von Brechmitteln zwecks Beweissicherung in Hamburg eingeführt – auf Betreiben des Innensenators und heutigen Bundeskanzlers Olaf Scholz (SPD). Die damalige Wissenschaftssenatorin und Zweite Bürgermeisterin, Krista Sager (Bündnis 90/Die Grünen), sagte im Juli 2001 der Hamburger Morgenpost: »Es handelt sich um einen intelligenten Mix aus Hilfsangeboten und repressiven Maßnahmen, an dem wir konstruktiv beteiligt waren.«
2006 wurde die zwangsweise Verabreichung von Brechmittel zur Beweissicherung in Hamburg beendet – die »freiwillige« Verabreichung wurde jedoch erst Ende 2020 eingestellt.
Damals standen Bürgerschaftswahlen an. Innere Sicherheit, Drogenkriminalität, Recht und Ordnung waren vieldiskutierte Themen. Wenige Monate später – die SPD hatte die Bürgerschaftswahl verloren, der Rechtspopulist Ronald Schill (PRO) in einem CDU-geführten Senat das Innenressort übernommen – gab es das erste Todesopfer.
Dass Brechmitteleinsätze nicht ungefährlich sind, war lange bekannt. Zehn Jahre zuvor hatte die Polizeiführung Hamburg ein Rechtsgutachten der Staatsanwaltschaft und ein medizinisches Gutachten eingeholt. Die Staatsanwaltschaft kam zu dem Schluss, dass Zwangsmaßnahmen wie Röntgen oder Brechmittel wegen der geringen zu vermutenden Mengen an Betäubungsmitteln im Mageninhalt unverhältnismäßig seien. Der Leiter der Rechtsmedizin am UKE, Klaus Püschel, wies zudem in einer schriftlichen Stellungnahme vom 27. August 1991 darauf hin, dass beim Erbrechen stets nicht unerhebliche Gesundheitsgefahren bestünden. Beim Erbrechen könnten Verletzungen der Speiseröhre nicht ausgeschlossen und das Erbrochene könnte eingeatmet werden. Trotz seiner Bedenken zehn Jahre zuvor erörterte Püschel 2001 gemeinsam mit der Polizei verschiedene Fragen rund um Brechmitteleinsätze. Er bot an, diese an seinem Institut für Rechtsmedizin vorzunehmen, weil Notfallapparaturen in der Nähe seien.
Genau dort starb der 19jährige Achidi John, nachdem ihm drei Tage zuvor – unter beträchtlicher Gewalteinwirkung – das Brechmittel Ipecacuanha und fast ein Liter Wasser in den Magen gepumpt worden waren. Polizisten hatten ihn am Hamburger Hauptbahnhof festgenommen, weil sie weiße Kügelchen und Schluckbewegungen beobachtet hätten. Telefonisch genehmigte ein Staatsanwalt den körperlichen Eingriff. Weil John Angst hatte und sich wehrte, drückten Polizeibeamte ihn auf den Boden, fesselten ihn an Füßen und Händen, versuchten, sein Gesicht zu fixieren – eingequetscht zwischen den Oberschenkeln eines Polizisten, wie ein beteiligter Beamter später aussagte. Der junge Mann schrie: »I will die!« Die drei Beamten forderten Verstärkung an. Wie unter anderem von polizeilicher Seite zu Protokoll gegeben wurde, soll die zuständige Rechtsmedizinerin dann zum dritten Mal versucht haben, den Schlauch durch die Nase einzuführen. John bewegte sich nicht mehr und verlor die Kontrolle über seine Blase. Minutenlang lag er da, gefesselt, regungslos, fast ohne Puls, bis – viel zu spät – der Notarzt gerufen wurde.
Über 40 Kügelchen holte man John aus dem Magen – insgesamt etwa fünf Gramm Crack. Dafür wäre er zu Arbeitsauflagen oder zu einer Jugendstrafe von etwa zehn Monaten auf Bewährung verurteilt worden. Das ergab damals eine Anfrage der Ärztekammer Hamburg beim Straf- und Jugendgericht. Die Ärztekammer wollte damit die Unverhältnismäßigkeit der Mittel aufzeigen. Noch im Oktober, wenige Monate vor dem Tod durch staatliche und ärztliche Gewalt, hatte das Ärztegremium einstimmig festgestellt, dass die Vergabe von Brechmitteln gegen den Willen des Betroffenen nicht zu vertreten sei.
Künstler aus dem Umfeld des Vereins Brothers Keepers ermittelten, wo der Verstorbene aufgewachsen war. Sie fanden heraus, dass er nicht aus Kamerun, sondern aus Nigeria stammte und dass er nicht Achidi John, sondern Michael Uzodinma Nwabuisi hieß. Im Sommer 2000, kurz bevor sein Visum auslief, hatte er seinen Pass vernichtet und in Hamburg als 19jähriger Achidi John aus Kamerun Asyl beantragt.
2006 stellte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) fest, dass die zwangsweise Vergabe von Brechmitteln »unmenschlich« und »erniedrigend« sei und gegen das Verbot der Folter in Artikel drei der Europäischen Menschenrechtskonvention verstoße. Die Bundesrepublik Deutschland musste damals einem Betroffenen ein Schmerzensgeld in Höhe von 10 000 Euro zahlen.
Daraufhin wurde diese menschenrechtswidrige Form der Beweissicherung in Hamburg beendet – nicht jedoch der »freiwillige« Einsatz. Noch 2008 schloss die Justizbehörde unter dem damaligen Senator und heutigen Bundestagsabgeordneten Till Steffen (Bündnis 90/Die Grünen) eine neue Vereinbarung über die Abrechnung von auf freiwilliger Grundlage erfolgenden Brechmitteleinsätzen. Diese Praxis wurde im Institut für Rechtsmedizin erst im November 2020 – als Püschel in Rente ging – eingestellt. »Diese Entscheidung beruhte auf einer Neubewertung der Verhältnismäßigkeit der Maßnahme«, erklärte die Justizbehörde. Die Prozedur sei mit gesundheitlichen Risiken verbunden.
Wie es zu dem menschenrechtswidrigen Einsatz in Hamburg kommen konnte, wird allerdings nicht weiter verfolgt. Ohne Strafe bleiben die Verantwortlichen, ohne Entschuldigung und Entschädigung die Opfer. Die Initiative zum Gedenken an Achidi John fordert eine medizinethische Aufarbeitung der ärztlichen Beteiligung an Brechmitteleinsätzen und ein würdiges Gedenken an John und die anderen Opfer der Brechmitteleinsätze auf dem Gelände des UKE.
Auch der Vizepräsident der Hamburgischen Bürgerschaft und Fraktionssprecher für Gesundheit und Innenpolitik der Partei »Die Linke«, Deniz Çelik, kritisiert die fehlende staatliche Aufarbeitung. Seinen Antrag »Verantwortung für die menschenrechtswidrigen Brechmitteleinsätze übernehmen!« lehnten allerdings alle anderen Fraktionen im Oktober ab. Dabei ist das Thema eng verknüpft mit den Themen racial profiling und der derzeitigen Hamburger Drogenpolitik, zumindest mit der Arbeit der »Taskforce Betäubungsmittel« der Polizei. Diese wurde im April 2016 eingesetzt und ist insbesondere in den Stadtteilen Sankt Pauli, Sankt Georg und Schanzenviertel tätig. Bis Juli dieses Jahres hat sie rund 6 500 Schwerpunkteinsätze, 211 500 Personenkontrollen und 318 500 weitere polizeiliche Maßnahmen vollzogen. In den Monaten Juli, August, September sind über 9 000 Menschen in diesen drei Kiezen kontrolliert worden, gegen 55 wurde Haftbefehl erlassen. Ob ihnen Drogenhandel oder andere, etwa aufenthaltsrechtliche, Delikte vorgeworfen werden, ist nicht bekannt.
Çelik ist für die Abschaffung der »Taskforce«. Sie sei ineffektiv und löse trotz erheblichen Personaleinsatzes nicht das Problem der Betäubungsmittelkriminalität, sagt er im Gespräch mit der Jungle World. »Der Effekt ist eher die Verdrängung und Kriminalisierung von Schwarzen Menschen und people of colour. Sie werden oftmals verdachtsunabhängig kontrolliert. Damit ist die ›Taskforce‹ einer der Hauptakteure von racial profiling.« Statt Unsummen für die Strafverfolgung von Konsumenten und Kleindealern zu verwenden, sollten die Gelder zur Stärkung der Suchtprävention und -beratung eingesetzt werden, so Çelik.
Es ist wohl noch ein langer Weg bis zur Aufarbeitung von und Auseinandersetzung mit institutionellem Rassismus bei der Polizei und im Gesundheitswesen. Kürzlich kürte das Hamburger Abendblatt Püschel zum »Hanseat des Jahres«. Andere Wege geht Bremen, wo der Tod von Laye-Alama Condé, der 2005 ebenfalls an den Folgen einer zwangsweisen Brechmittelvergabe gestorben ist, zumindest strafrechtlich verfolgt wurde. Im vergangenen Jahr hat der Senat beschlossen, einen Ort zu schaffen »zur Mahnung daran, dass niemand in polizeilicher Obhut einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung unterzogen werden, nachhaltig zu Schaden oder gar ums Leben kommen darf«.

Erstveröffentlichung am 09.12.2021 in jungle.world
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