Der 23.10. 2021 in Leipzig, Versuch einer Reflektion

Am 23. Oktober 2021 hätte eine große Demo in Leipzig stattfinden sollen. Mit einem deutschlandweiten Aufruf hatten viele Strukturen, Gruppen und Einzelpersonen den Aufruf unterstützt und sich organisiert, um für diesen Tag nach Leipzig zu kommen. Auch wir als Interkiezionale sahen den Aufruf der Leipziger Genoss*Innen positiv, da wir einen Mangel an gemeinsamen Momenten sehen, in denen Menschen aus ganz Deutschland zusammenkommen um Wissen und Meinungen austauschen zu können. Raum und Zeit für Austausch und Vernetzung zu schaffen, sollte aber eine unserer Prioritäten sein. Der Tag in Leipzig hätten als Ausgangspunkt für die autonome, anarchistische, antiautoritäre Bewegung hierzulande dienen können, um nicht als Reaktion auf einen bestimmten Angriff, sondern als unseren eigenen Kampftag zusammenzukommen. Nach dem Verbot der Demonstration waren wir eine der Strukturen, die noch dazu aufriefen, nach Leipzig zu fahren.

Gastbeitrag – 20. November 2021|

Da wir diesen kollektiven Moment als wichtig für die Bewegung erachten, das Verbot unserer Demonstrationen und die Möglichkeiten, dagegen zu kämpfen, für uns ein zentrales Thema ist, und wir durch den Aufruf zur Demonstration und gegen das Verbot Verantwortung übernahmen, haben wir uns entschlossen, einen Reflexionstext darüber zu schreiben, in der Hoffnung, weitere Diskussionsbeiträge anzustoßen, welche hoffentlich die Diskussionen verbinden, die sicherlich auf Stadt-, Szene- oder Gruppenebene stattfinden.

Demonstrationen als ein Moment des kollektiven Kampfes

Demonstrationen sind immer eines unserer wichtigsten politischen Instrumente. Neben Propaganda, Gegeninformationen, direkten Aktionen und Versammlungen sind Demonstrationen Momente, die uns intern und extern helfen. Einerseits ist es ein Moment, in dem Menschen zusammenkommen, ihre Genoss*Innen treffen, Momente schaffen und gemeinsame Erfahrungen machen. Menschen fühlen sich gestärkt und die politischen Gruppen erweitern sich zu einer Bewegung. Wir kommen zusammen und zeigen Solidarität mit Menschen, die wir nicht kennen, weil sie in diesem Moment unsere nahesten Genoss*Innen sind. In diesen Momenten heißt es WIR gegen alles, was uns unterdrückt und ausbeutet. Andererseits sind Demonstrationen der Ort, an dem sich der Rest der Gesellschaft an uns wenden kann. Hier kommen unsere Ideen und Perspektiven in den öffentlichen Raum. Die Straßen werden zu einem Propagandakanal, und zumindest für eine Weile enteignen wir die Zeit und den Ort!

Für uns selbst ist die Demonstration also eines der wichtigsten politischen Instrumente. Unsere Priorität ist es, zu demonstrieren und unsere Überzeugungen zum Ausdruck zu bringen. Wie auch immer eine Demonstration aussieht, ob sie friedlich ist oder nicht, ob sie schwarz oder bunt ist, sie ist immer einer der wichtigsten Momente unserer Bewegung, und wir sollten für sie kämpfen.

Das Verbot

Das Verbot der Demonstration am 23.10. hat genau dies gezeigt. Dass der Staat immer versucht ist zu verhindern, dass sich verschiedene Kämpfe verbinden und linksradikale Ideen öffentlich werden. Denn für den Staat ist es viel einfacher, dezentrale Aktionen, die immer wichtig und notwendig sind, zu kontrollieren oder zu verschweigen, aber es ist viel schwieriger zu verbergen, wenn viele Menschen zusammenkommen um ihre politische Haltung und Perspektive öffentlich zu teilen.

Das Verbot der Demo hat gezeigt, dass wir uns in einer Phase befinden, in der der Staat mit totalitären Erzählungen und Taktiken liebäugelt. Selbst in einer bürgerliche Demokratie offenbart ein Verbot einer angemeldeten Demonstration den autoritären Charakter dieses Staates. Das Argument, „keine friedliche Demonstration zu erwarten“, zeigt die staatliche Unterdrückungsstrategie. Auf der Grundlage von Vorhersagen, Möglichkeiten und „Prognosen“ trifft der deutsche Staat eine Entscheidung und verurteilt, bevor die Aktion überhaupt stattgefunden hat. Auf der einen Seite zeigt man die eigene „Unfähigkeit“, eine Demo zu „kontrollieren“ und auf der anderen Seite ist man in der Lage, die ganze Stadt Leipzig zu belagern.

Ein Widerspruch nach dem anderen an diesem Wochenende, in dem wir mit einer Bullenstadt konfrontiert wurden, in der Patrouillen und Kontrollpunkte das Regime repräsentieren, in dem wir leben. Ihr Ziel war es, alles unter Kontrolle zu halten, ohne dabei allzu willkürliche Kontrollen durchzuführen, die zu Konflikten und Ärger führen könnten.

Die Reaktion der Bewegung

Und jetzt kommt unser Teil. Was haben wir als Bewegung geschafft? Wo waren unsere Fehler, aus denen wir für zukünftige Kämpfe und Verbote lernen können?

Nach dem Verbot der Demo herrschte ein ohrenbetäubendes Schweigen auf unserer Seite, dagegen und darüber, wie wir uns verhalten sollten. Wir sind der Meinung, dass sich die Bewegung offener und deutlicher für die Notwendigkeit, sich gegen das Verbot zu wehren, hätte aussprechen müssen. Auf öffentlichen Gegenmedienkanälen oder intern hätten Gruppen, die vorher anriefen oder trotz des Verbots gehen wollten, Aufrufe machen können, und dies hätte in den Tagen vorher eine dynamische und kollektivere Atmosphäre schaffen können, die vielleicht mehr Leute mobilisiert hätte, sich anzuschließen oder zumindest die Leute, die sowieso gehen wollten, zu bestärken.

Das Verbot einer Demo ist nicht etwas, mit dem wir ständig konfrontiert sind, denn es ist ein Instrument, das der Staat eher selten einsetzt, und deshalb fehlt uns die Reflexion, um dagegen vorzugehen. Es gibt Beispiele aus jüngster Zeit, die wir in unserer Stadt erlebt haben und auf die sich Diskussionen stützen könnten, auch wenn uns klar ist, dass es keinen Eins-zu-Eins-Vergleich gibt und keine derartige Taktik oder Idee an jedem Ort und zu jeder Zeit mechanisch reproduziert werden kann. Das Verbot der 1. Mai-Demonstration am 2020 (1), unter dem Vorwand der Pandemie, gegen die die Orga beschloss, die Menschen trotzdem auf die Straße zu rufen, indem sie Treffpunkte rund um Kreuzberg ankündigte, die die Menschen versuchten zu erreichen, und es in vielen Fällen auch schafften, in einem Viertel, das von Tausenden von Polizisten belagert wurde. Natürlich ist der politische Hintergrund und die Geschichte der 1. Mai-Demos besonders. Das zeigte sich wohl auch daran, dass wenige Monate nach einem ähnlichen Aktionsversuch einen Tag vor dem Gerichtstermin der Liebig34, am 02.06.20, die 1. Mai-Dynamik nicht auf der Straße reproduziert werden konnte, obwohl die Idee ähnlich war (2). Gleiches gilt für die Interkiezionale Tag-X Demo für die Räumung des Syndikat am 08.07.20. Diese Demo war zwar nicht angemeldet, aber öffentlich angekündigt, die Leute schafften es zwar, sich zu versammeln, aber die Demo wurde gekesselt und die Seitenstraßen von den Bullen blockiert, so das nicht gelaufen werden konnte. Eine kritische Reflexion dieser Demo findet sich hier. (3)

Ausblick

Das Verbot der Demo kann ein Präzedenzfall für die Zukunft sein. Der Staat könnte nach den Erfahrungen der Demo in Leipzig versuchen, dies wieder durchzusetzen. Wir sind der Meinung, dass wir Wege finden sollten, um schneller über solche Repressionsschläge zu reflektieren und parallel dazu zu versuchen, dass dies möglichst inklusiv ist, also nicht auf kleinen Plenas „eingeweihter“ passiert.

Auch wenn wir es nicht geschafft haben, am 23.10. gemeinsam zu laufen, sollten wir daran denken, dass der Staat Tausende von Polizisten mobilisiert hat, um uns zu stoppen, und uns fragen, wie wir das nutzen können? Zum Beispiel, wenn wir häufiger zu bundesweiten Veranstaltungen aufrufen, kann der Staat weiterhin Verbote aussprechen und jedes mal Tausende von Polizisten schicken? Und selbst wenn das logistisch möglich ist, ist das auf politischer Ebene für den Staat vermittelbar?

Da wir Demonstrationen als eines unserer wichtigsten politischen Instrumente und Vernetzungspunkte anerkennen, sind wir der Meinung, dass wir als Interkiezionale im Vorfeld mehr hätten diskutieren sollen, um konkrete Vorschläge auf den Tisch zu legen und darüber hinaus als emanzipatorische Bewegung den Ort und die Zeit für diese Diskussion in Leipzig hätten schaffen sollen. In Momenten, in denen der Staat versucht, uns in unsere kleinen Kreise zu spalten, haben wir die Verantwortung, uns zusammenzubringen, uns zu verbinden und einen größeren Kreis zu schaffen. In den Momenten, in denen der Staat will, dass wir unsichtbar und nicht öffentlich präsent sind, müssen wir zusammenkommen und so laut wie möglich schreien, dass wir hier sind und dass wir kämpfen werden. In den Momenten, in denen der Staat sogar eine Demonstration verbietet, müssen wir Wege finden, die Straßen GEMEINSAM zurückzuerobern und unsere Ideen zu zeigen.

Wir haben es dieses Mal nicht geschafft, den Angriff abzuwehren, aber wir sehen diese verpasste Chance als einen guten Ausgangspunkt für Diskussionen und Austausch. Wir freuen uns auf Feedback und Input.

Wir sehen uns auf der nächsten Demo! Die Straßen sind die Unseren!

Interkiezionale

November 2021

Hinweis: Wir arbeiten an einem Rückblick auf die Tag-x Demo vom 15.10. wegen der Köpiplatz-Räumung. Da es aber keine unmittelbare Räumungsdrohung für andere Projekte gibt, möchten wir die Räumungswelle größer reflektieren, daher wird es noch etwas dauern.

Fußnoten

(1) https://1mai.blackblogs.org/?p=877

(2) http://liebig34.blogsport.de/2020/06/01/remember-and-fight-cop-violence-june-2-an-eventful-day-and-eve-of-the-liebig-34-verdict/

(3) https://interkiezionale.noblogs.org/syndikat-sponti/

Erstveröffentlichung am 20.08.2021 auf  Indymedia DE.
Geschrieben von Interkiezionale.
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Für den Inhalt dieses Artikels ist der Autor bzw. die Autorin verantwortlich.
Dabei muss es sich nicht grundsätzlich um die Meinung
der Redaktion des Magazins DER REVOLUTIONÄR handeln.
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