Die Menschen machen ihre Geschichte selbst

Die Menschen machen ihre Geschichte selbst. Diese Erkenntnis ist zwar ein Fortschritt gegenüber einer göttlichen Schicksalshaftigkeit anhängenden feudal-mittelalterlichen Geschichtsreligion, sie erklärt aber noch nicht, aus welchen Motiven heraus Menschen und Menschenmassen Geschichte machen.

 

Heinz Ahlreip – Autor und Redaktionsbeirat

 

 

Von Heinz Ahlreip 
20. Mai 2023

 

 

Erst Marx und Engels brachten hier durch Ausdehnung des Materialismus auf die Gesellschaft und ihrer Geschichte und durch die Erkenntnis der Bedeutung der Volksmassen in der Geschichte Licht in die Sache und klärten auf, wodurch diese Motive bestimmt werden.

Sie wiesen ausdrücklich und nachhaltig auf die Schlüsselfunktion der objektiven Produktionsbedingungen des materiellen Lebens hin und ermittelten in diesen die Basis für alles geschichtliche Handeln der Menschen. Diese objektiven Produktionsbedingungen des materiellen Lebens bilden den Leitfaden der marxistischen Geschichtstheorie, die eine objektive Gesetzmäßigkeit des geschichtlichen Verlaufs vertritt. Aus den objektiven Produktionsbedingungen ergibt sich eine sich zwangsläufig durchsetzende historische Gesetzmäßigkeit, die als sicheres Unterpfand eines notwendigen Eintritts einer kommunistischen Phase der Geschichte gilt. Im Folgenden werde ich als Beleg einige markante Aussagen von Marx und Engels unterbreiten.

Zum Jahreswechsel 1843/44 erörtert Marx in der Schrift ‘Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie/Einleitung‘ die positive Möglichkeit einer deutschen Emanzipation. Er findet diese im Proletariat, in einer Klasse, welche kein besonderes Recht in Anspruch nimmt, weil kein besonderes Unrecht an ihr begangen wird, sondern das Unrecht schlechthin. Es liegt ein völliger Verlust des Menschen vor. Hier wird ohne Berücksichtigung objektiv ökonomischer Faktoren vom humanistischen Standpunkt aus argumentiert mit dem Kerngedanken, der völlige Verlust des Menschen müsse gemäß dem dialektischen Umschlag eines Sachverhalts in sein Gegenteil zu seiner völligen Wiedergewinnung führen Aber eine entscheidende Weichenstellung wird vorgenommen: “Die Auflösung der Gesellschaft als ein besonderer Stand ist das Proletariat.“ (1)

Ganz massiv geht es neun Monate später weiter. In der im September/November 1844 zusammen mit Engels verfassten Schrift ‘Die heilige Familie‘ finden wir die wohl markanteste Passage einer als objektiver Naturvollzug aufzufassenden Geschichtsdeutung. Gesprochen wird von der harten, aber stählenden Schule der Arbeit, die das Proletariat nicht vergebens durchmache. “Es handelt sich nicht darum, was dieser oder jener Proletarier oder selbst das ganze Proletariat als Ziel sich einstweilen vorstellt. Es handelt sich darum, was es ist und was es diesem Sein gemäß geschichtlich zu tun gezwungen sein wird. Sein Ziel und seine geschichtliche Aktion ist in seiner eignen Lebenssituation wie in der ganzen Organisation der heutigen bürgerlichen Gesellschaft sinnfällig, unwiderruflich vorgezeichnet.“ (2) Hier wird jegliche subjektive Schrulle dieses oder jenes Proletariers als unerheblich für die Revolutionsgeschichte abqualifiziert. Das objektive Klassendasein stellt hier die Weiche für den zwangsläufig progressiven Verlauf der Geschichte.

Im um die Jahreswende 1847/48 geschriebenen Kommunistischen Manifest bezeichnen Marx und Engels das Kapital als ein gemeinschaftliches Produkt, das nur durch die gemeinsame Tätigkeit aller Mitglieder der Gesellschaft in Bewegung gesetzt werden kann. (3) Hier wird deutlich, dass der Sozialismus ein Produkt der im kapitalistischen Produktionsprozess angelegten Kollektivität ist. Diese wächst aber nicht schnurstracks in den Sozialismus hinein, sondern die Revolution bricht die Kontinuität, so dass die sozialistische Kollektivität eine qualitativ andere ist als die kapitalistische. Sie ist eine ohne die Diskrepanz zwischen gesellschaftlicher Produktion und privater Aneignung, Kollektivität im eigentlichen Sinne. In dieser Totalität liegt, berücksichtigt man den völligen Verlust der werktätigen Menschen im kapitalistischen Produktionsprozess und die grauenvolle Totalität des Unrechts in ihm, eben das Unterpfand einer völligen Wiedergewinnung ihres Menschseins im Kommunismus. Die Totalität des Unrechts muss umschlagen in eine Assoziation, “worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist.“ (4)

Von Ende August bis Mitte September 1857 hatte Marx am Vorwort zur Kritik der politischen Ökonomie gearbeitet. Auch in diesem Vorwort wird einer objektiven Gesetzmäßigkeit des geschichtlichen Verlaufs das Wort geredet. Der menschliche Wille hat keinen Einfluss auf die Produktionsverhältnisse, die der Mensch sich nicht aussuchen kann, sondern die er vorfindet, an die er anknüpft, die er weiterentwickelt für kommende Generationen. Gemäß dem Fortschrittskonzept der bürgerlichen Aufklärung geschah das stufenleiterförmig. Dieses Konzept ist noch geprägt durch den besonders durch das Denken Diderots allmählich überwundenen mechanischen Materialismus. Das dialektische Geschichtskonzept dagegen schließt Rückschläge und Sprünge ein, ist also dem alten Geschichtsbild konträr. Marx fährt dann fort: “Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozess überhaupt. Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewusstsein bestimmt.“ (5) Marx spricht hier von Revolutionen, in denen man unterscheiden muss zwischen der materiellen naturwissenschaftlich treu zu konstatierenden Umwälzung in den ökonomischen Produktionsbedingungen und den juristischen, politischen, religiösen, künstlerischen oder philosophischen, kurz, ideologischen Formen, worin sich die Menschen dieses Konflikts bewusstwerden und ihn ausfechten (6) Der rote Faden des naturwissenschaftlich treu zu konstatierenden Inhalts der marxistischen Geschichtstheorie und Gesellschaftsanalyse, die eine objektive Gesetzmäßigkeit des geschichtlichen Verlaufs vertritt, ist hier klar und präzise abgegrenzt von Überbauformen, in deren Verbleib wir von einer unwissenschaftlich-chaotischen (ideologischen = verkehrten) Betrachtungsweise gesellschaftlicher Vorkommnisse in eine andere taumeln. An die wissenschaftlichen Sozialistinnen und Sozialisten werden die Anforderungen immer höher, durch den von bürgerlichen Massenmedien ausgegebenen subjektiven Brei der Halbbildung und der Manipulation Linie zu halten und gegen die momentane Mehrheit das marxistisch-leninistische Koordinatensystem durch die Zeit zu retten. Es gibt keine chinesische Mauer zwischen wissenschaftlicher und ideologischer Weltsicht.

Die bürgerlichen Massenmedien sind heute so eingerichtet, dass alle Mitglieder der Gesellschaft, die das Kapital in Bewegung halten und als Arbeitnehmer falsch angegeben werden, in gesellschaftswissenschaftliche Unmündigkeit gehalten werden sollen. Es fängt ja schon beim Wort selbst an, als sei der Kapitalist der Arbeitgeber, Wesen und Erscheinung werden hier vertauscht, was ohnehin ein Kernkriterium ideologischer Gehalte ausdrückt. Es kann naturgemäß nicht einmal einen gesellschaftswissenschaftlichen Ansatz einer Differenzierung zwischen den materiellen naturwissenschaftlich treu zu konstatierenden ökonomischen Produktionsbedingungen und Ideologie geben. Ohne diese entscheidende gesellschaftswissenschaftliche Differenzierung müssen für die bürgerlichen Ideologen ihre abstrusen Gedankenverrenkungen wurzellose Pirouetten bleiben. Der Zusammenhang des gesellschaftlichen Lebens mit der Produktion der materiellen Güter, der den Epochengehalt bestimmt, muss von den Ideologen unproduktiver Klassen ständig zerrissen werden, die die Phasengesetzmäßigkeit der Geschichte manipulieren müssen in eine endlich erreichte Endphase. So, durch Deklamation der herrschenden Ideologie als Endgehalt von Weltgeschichte wird der herrschenden Klasse geschmeichelt, Emanzipation unterdrückter Klassen zugleich entgegengebürstet.

Über ein streng wissenschaftliches Fundament können Ideologen ohne kernige Grundsatzposition, wie Marx sie vertritt, nicht verfügen. Aus einer Kritik am Marxismus aus bloßen Überbaubewusstseinsformen heraus kann sich kein wissenschaftlich fundierter Ideologiegebäude herausbilden, wohl aber umgekehrt aus einer marxistischen Kritik an bürgerlichen Bewusstseinsformen. Marxistinnen und Marxisten haben den großen Vorteil, in diesen Dingen wortwörtlich über eine Basis zu verfügen. Der wohl wichtigste Brief in diesem Zusammenhang ist der von Marx an Engels vom 7. Juli 1866, in dem der Satz fällt: “Unsere Theorie von der Bestimmung der Arbeitsorganisation durch das Produktionsmittel.“ In diesem Produktionszusammenhang kann nichts subjektiv bestimmt werden, weder vom Proletariat, das die vorgefundenen Produktionsmittel hinzunehmen hat wie sie sind, Vogel friss oder stirb, noch von der Bourgeoisie, die der willenlose und widerstandslose Träger des Fortschritts der Industrie ist. (7)

Endlich wird im Kapital im Kapitel über die sogenannte ursprüngliche Akkumulation der objektive Gang der ökonomischen Entwicklung des Kapitalismus und deren unausbleibliche Folgen festgezurrt: Der Kapitalismus verwandelt mehr und mehr die Arbeitsmittel in nur noch gemeinsam verwendbare Arbeitsmittel. (8) Alle Völker werden in das Netz des Weltmarktes verschlungen. Es ist also die objektive ökonomische Entwicklung des Kapitalismus selbst, die die Disposition für kollektive sozialistische Produktionsweisen skizzenhaft vorzeichnet. Parasiten bauen ihre eigenen Fallen und werden in diesen verschlungen: Organisierung und Disziplinierung des Proletariats, das gezwungen ist, sich weltweit zu vereinigen. Die große Fehlerquelle bei objektiv veranschlagten Fortschrittskonzepten besteht in der Ausblendung subjektiver Faktoren. Bei aller mit breitem Stift gezogener objektiver Kontur darf niemals ein Revolutionsautomatismus abgeleitet werden. Menschen machen ihre Geschichte selbst. Das ist das Vermächtnis Vicos.

Man könnte, wie gesagt, durch diese Konturen einem Automatismus der geschichtlichen Entwicklung verfallen, aber natürlich spielt auch der menschliche Kopf eine Rolle im Vollzug der Weltrevolution, wenn auch nicht die primäre. Das muss ein für alle Mal gesichert sein, vor allem vor den idealistisch verdorbenen Schülern Willi Dickhuts. Wenn Engels Anfang 1886 in seiner Studie über Feuerbach schreibt, dass alles, was die Menschen in Bewegung setzt, durch ihren Kopf hindurchmuss, so spricht diese richtige Widerspiegelung zur Initiative revolutionärer Prozesse auf den ersten Schein für eine besondere Bedeutung des subjektiven Denkens in der Ausbruchsphase der Revolution und über diese hinaus; die weitere Ausführung: “aber welche Gestalt es in diesem Kopf annimmt, hängt sehr von den Umständen ab.“ (9) widerlegt die idealistische Schrulle, dass die Gedanken frei wären. Die Feststellung von Engels richtet sich auch gegen die bürgerlichen Vertreter einer objektivistischen Geschichtstheorie; die Vereinigung der Proletarier aller Länder erfolgt nicht automatisch vorgegebenen, von der Geschichte selbst konstruierten Konstellationen. Die historisch als ein Naturprozess sich herausgebildeten ökonomischen Konstellationen geben den Inhalt der Revolution vor, der entsprechende Überbau aber kann die Form der Revolution beeinflussen. Müntzer wie Luther konnten nur im Kontext der christlichen Bibel argumentieren, anders waren die Bauern gar nicht zu erreichen. Deshalb Luthers rasche Übersetzung ins Deutsche. Also mit der Bibel in der Hand und im Kopf, worauf es ankam, war die Fixierung auf sie als Richtschwert, auch im Weltlichen galten Abweichungen von ihr als Sünde. Also um Abweichungen im religiösen Sinn ging es im Überbau – und nur in ihm – im deutschen Bauernkrieg. An der Basis rebellierten erste bürgerliche Produktivkräfte gegen die feudalen Produktionsverhältnisse. Alles in allem liegt eine Wechselwirkung zwischen Basis und Überbau vor, aber keine äquivalente. Luther selbst erschrak vor den Geistern, die er geweckt hatte, er funktionierte die religiöse Reformation um in eine weltlich bewahrende Potenz, er drehte die Waffen um, aber reaktionär, gegen unten, gegen die bäuerlichen Massen des deutschen Volkes. Dem späten, reaktionär gewordenen Hegel genügte schon diese religiöse Umwandlung im Gemüt, um die Forderungen nach einer Jakobinerrevolution in Deutschland abzuweisen, für ihn erübrigte sich diese bereits durch die Reformation.

 

Quellenverzeichnis

(1)  Karl Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie/Einleitung, Werke, Band 1, Dietz Verlag Berlin, 1960, Seite 390.

(2)   Karl Marx, Friedrich Engels: Die Heilige Familie, Werke, Band 2, Dietz Verlag Berlin, 1960, Seite 38.

(3)  Vergleiche Karl Marx/Friedrich Engels: Manifest der Kommunistischen Partei, Werke, Band 4, Dietz Verlag Berlin, 1960, Seite 475.

(4)   a.a.0., Seite 482.

(5)   Karl Marx, Vorwort zur Kritik der politischen Ökonomie, Werke, Band 13, Dietz Verlag Berlin, 1960, Seite 9.

(6)   a.a.O.

(7)   Karl Marx/Friedrich Engels: Manifest der Kommunistischen Partei, Werke, Band 4, Dietz Verlag Berlin, 1960, Seite 473.

(8)   Vergleiche Karl Marx, Das Kapital, Werke, Band 23, Dietz Verlag Berlin, 1960, Seite 790.

(9)   Friedrich Engels, Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie, Werke, Band 21, Dietz Verlag Berlin, 1960, Seite 298.

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Über Heinz Ahlreip 97 Artikel
Heinz Ahlreip, geb. am 28. Februar 1952 in Hildesheim. Von 1975 bis 1983 Studium in den Fächern Philosophie und Politik an der Leibniz Universität Hannover, Magisterabschluss mit der Arbeit »Die Dialektik der absoluten Freiheit in Hegels Phänomenologie des Geistes«. Forschungschwerpunkte: Französische Aufklärung, Jakobinismus, Französische Revolution, die politische Philosophie Kants und Hegels, Befreiungskriege gegen Napoleon, Marxismus-Leninismus, Oktoberrevolution, die Kontroverse Stalin – Trotzki über den Aufbau des Sozialismus in der UdSSR, die Epoche Stalins, insbesondere Stachanowbewegung und Moskauer Prozesse.

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