Vor 150 Jahren verstarb am 8. Februar 1874 der Religionskritiker David Friedrich Strauß in seiner Heimatstadt Ludwigsburg, in der er am 27. Januar 1808 als Sohn eines Kaufmanns geboren wurde. Er war wie Hegel, Hölderlin und Schelling ein Absolvent des Tübinger Stifts, der Geburtsstätte des deutschen Idealismus.
Von Heinz Ahlreip – 01. Februar 2024 | Er begann seine philosophische Entwicklung als Hegelianer, erwies sich aber als einer der wenigen Idealisten aus der Schule Hegels, die aus der substanzlosen Grundprämisse herauskamen und revolutionäre und damals radikale Schlussfolgerungen zogen. Seine philosophischen Vertiefungen hatten zu dem Resultat geführt, dass der herrschenden Religion des Christentums generell der wissenschaftliche und speziell der historische Boden zu entziehen sei. Er war ein Denker des 19. Jahrhunderts, vier Jahre vor dem Russlandfeldzug Napoleons geboren und drei Jahre nach der brutal-blutigen Niederschlagung der Pariser Commune verstorben. Er war über sechzig Jahre ein Zeitgenosse von Feuerbach, Marx und Engels. Der Grundmangel des Idealismus überhaupt und spezifisch des Hegelschen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts besteht darin, dass er, auf welch kurios-verworrene Art auch immer, eine Weltschöpfung aus einer Idee, aus einer absoluten Idee, wie es bei Hegel heißt, auf alle Fälle aus etwas Immateriellen heraus konstruieren muss. Das ist die feste Burg des Materialismus, die Welt und die auf ihr lebenden Menschen aus sich selbst heraus zu erklären. Wir haben unseren Grund in uns selbst. Bei den Materialisten steht der Mensch im Mittelpunkt, bei den kommunistischen Materialisten die arbeitenden Klassen der bürgerlichen Gesellschaft, für die Idealisten ist der Mensch ein zweitrangiger, von Gott oder der Idee ständig abfallender ohnmächtiger Sündenkrüppel.
Ohne die theoretische Leistung des literarisch zügig arbeitenden Strauß wäre der wissenschaftliche Sozialismus mit Feuerbach als Zwischenglied von Hegel zu den Materialsten Marx und Engels auf seinem Weg vom Nichtwissen zum Wissen nicht so zeitig in die atheistisch-wissenschaftlichen Tiefen gelangt, die Religion aus der ökonomischen Ausbeutung des Menschen durch den Menschen abzuleiten. Für Marx war sie das Opium des Volks und für Lenin
“eine Art geistigen Fusels, in dem die Sklaven des Kapitals ihr Menschenantlitz und ihre Ansprüche auf ein halbwegs menschenwürdiges Leben ersäufen“
(Lenin, Sozialismus und Religion, Werke, Band 10, Dietz Verlag Berlin, 1960,71).
Deshalb kann es im Kapitalismus keine staatlichen Schulen mit weltanschaulich atheistischer Grundausrichtung geben.
Strauß veröffentlichte sein Hauptwerk ‘Das Leben Jesu kritisch betrachtet‘ 1835 und wies darin nach, dass unser eingebildetes Wissen über Jesus zutiefst widersprüchlich und unwissenschaftlich, eine Schrulle ist und nicht ausreicht, einer kritisch historisch-wissenschaftlichen Prüfung standzuhalten. Unser Wissen ist zu gering, um wissenschaftliche Verwertung zu ermöglichen. Fortan war Religionskritik eine Auseinandersetzung mit bürgerlicher Ideologie, die Theologie war aus dem Kreis der Wissenschaften verbannt, die Philosophie, freilich noch die bürgerliche, ersetzte jegliche Religion. Auf die Notwendigkeit, einen klaren Trennungsstrich zwischen Wissenschaft und Ideologie zu ziehen, musste fortan hingearbeitet werden, während Hegel noch christlichen Glauben und das Wissen seiner Zeit versöhnen wollte. Der Bann war gebrochen.
Dieser Tabubruch hatte weitreichende politische Folgen: Die Schule Hegels zerbrach in fortschrittliche Links- und konservative Rechtshegelianer, die ersteren bereiteten ideologisch die 48er Revolution vor, die letzteren waren restaurativ tätig. Die Spaltung der Hegelschule in der Mitte der 30er Jahre des 19. Jahrhunderts, das ist in der deutschen Geschichte nicht wenig, und deshalb denken wir am 8. Februar an Strauß, eingedenk der Tatsache, dass die Kapitalisten, um von ihrer wichtigen, grundlegenden ökonomischen Ausbeutung der Massen abzulenken, die religiöse Fragestellung ganz oben im Themenkatalog sehen möchten. Die Fuselflasche soll kreisen. 1841 erschien Feuerbachs Buch ‘Das Wesen des Christentums‘, das Strauß vertiefte und ebenfalls Epoche machte durch den schlichten Gedanken, dass es eine Natur vor der Philosophie gegeben habe. Und Gott ist lediglich eine phantastische Rückspiegelung unserer selbst, 1841 folgten Marx und Engels diesem Gedankengang. Ausgehend von den kritischen Vorarbeiten der beiden atheistischen Vorgänger brachten erst Marx und Engels den wissenschaftlichen Atheismus einen großen Sprung nach vorne, indem sie selbst noch die Linkshegelianer vom Kopf auf die Füße stellen mussten und freilegten, dass der auf der Menschheit lastende Druck der Religion nur ein Spiegelbild des ökonomischen Drucks innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft ist. Im Marxismus-Leninismus sind die wissenschaftlichen Leistungen von Strauß und Feuerbach aufbewahrt und auf eine höhere Stufe gehoben.
Das sogenannte historische Problem des Christentums war in der Geschichte der Philosophie und der Theologie immer von Kopfarbeitern von Vernunft wegen angegangen worden. So mussten die vom Primat der Kopfarbeit ausgehenden Materialisten in der bürgerlichen französischen Aufklärungsbewegung des 18. Jahrhunderts auf den Trichter kommen, Religion sei eine Erfindung im Kopf gerissener betrügerischer Pfaffen, um die Schäflein ökonomisch auszuplündern. Die Ökonomie war schon im Spiel, aber ganz falsch. Sie konnten nicht der Lösung von Marx und Engels näherkommen, weil sie, und das ist ein Grundmangel des klassischen bürgerlichen Materialismus, die Thematik der Religion scholastisch außerhalb der Klassenkämpfe der bürgerlichen Gesellschaft abhandelten und den Materialismus nicht auf die Geschichte als einer von Klassenkämpfen anwenden konnten. Politisch, nicht streng wissenschaftlich, war dennoch etwas dran an der Priestertrugstheorie, sie impfte ideologisch die Jacquerie (Bauernaufstände) mit ihrem Niederbrennen adliger Agrargüter während der tollen Jahre der französischen Revolution. Anreizen konnte man die Massen mit ihr.
Zwischen dem französischen Materialismus des 18. Jahrhunderts und dem deutschen Materialismus des 19. Jahrhunderts hatte sich philosophiegeschichtlich Hegel mit seiner Dialektik positioniert. Strauß war von dieser fasziniert. Am 10. November 1831 begegnet er Hegel persönlich, vier Tage später stirbt dieser. Hegel hatte sich 1788 bis1790 in seinem Erstlingswerk ‘Der Geist des Christentums und sein Schicksal’ mit der Frage auseinandergesetzt, wie konnte es aus der kleinen Jünger Kommune um Jesus herum zu den grauenvollen menschenverachtenden Entartungen des orthodoxen Christentums kommen? So gelangte Strauß zu seinem Hauptwerk.
Es galt mit dem Humbug Hegels aufzuräumen. Dieser Idealist deutete Jesus als einen einzigartigen Menschen, durch den Gott als Mensch auf Erden wandele und er deutete die Geschichte als Gotteswerk. Man müsse die Geschichte von der biblischen Geschichte lösen und den sogenannten Heiligen Geist aus ihr vertreiben. In dieser nüchternen Vorgehensweise ähnelt Strauß Spinoza, der sich mit den jüdischen Autoritäten angelegt hatte, weil er den Heiligen Geist aus der Bibel vertrieben hatte, sie sei von Menschenhand geschrieben worden.
Die Werke von Strauß, besonders auch das fast gleichzeitig mit Feuerbachs ‘Wesen des Christentums‘ erschienene Werk ‘Die christliche Glaubenslehre in ihrer geschichtlichen Entwicklung und im Kampfe mit der modernen Wissenschaft‘ von 1840/41 hatten eine politische Dimension. Wir dürfen nicht übersehen, dass in einer Monarchie der Monarch der Staat Gottes ist, wie er auf Erden wandelt und das Bündnis von Thron und Altar war somit von Strauß direkt angegriffen worden. Und die Reaktion reagierte. Er verlor sein Amt als Repetent am Tübinger Stift und erhielt obendrein ein lebenslanges Universitätsverbot. Marx erkannte daraus, dass sein Vorhaben, Professor für Philosophie an der Universität Bonn zu werden, zum Scheitern verurteilt ist, Jahrzehnte des Hungers begannen und es geht auf das Schuldkonto der bigotten rheinisch-westfälischen Bourgeoisie, dass vier Kinder von Marx im Londoner Exil Hungers starben, auch der kleine Edgar, der als besonders begabt galt, im Alter von acht Jahren. Das hinderte aber Sozialdemokraten im Gefolge Herbert Wehners nicht daran, auf eine große Koalition zuzustreben.
Marx und Engels äußerten sich immer positiv über die christenfeindlichen Schriften von Strauß, obwohl ihm, ähnlich wie Feuerbach, der Durchbruch zum dialektischen und historischen Materialismus nicht gelang. War er als Philosoph fortschrittlich, so war er, hier Plechanow vergleichbar, als Politiker reaktionär. In der 48er Revolution trat er demokratiefeindlich auf, er bekämpfte die deutsche Sozialdemokratie als Anhänger Bismarcks.
Strauß kam über die liberal-demokratische, bürgerliche Klassenideologie nicht hinaus. Trotzdem müssen wir gerade heute in der Phase des Imperialismus, der politischen Reaktion auf der ganzen Linie, seiner und seines Werkes gedenken. Die Bourgeoisie braucht in ihrem Kampf gegen die klassenbewusste Arbeiterklasse den religiösen Fusel, deshalb ist es die Pflicht marxistisch-leninistischer Materialisten, die einst progressive bürgerliche Ideologie gegen die heutige reaktionäre Linie als Kampfmittel aktualisiert einzusetzen. Eine vom Klassengegner, also von außen kommende Religionskritik kann sie als klassenkämpferisch-subversiv abprallen lassen, eine immanente Kritik, die den Klassenfeind anhand seiner eigenen theoretischen Grundlegung des Abweichens überführt, ist viel schmerzhafter als Beleg eigener Klassendekadenz. Das schlägt der Bourgeoisie auf den vollgefressenen Magen.
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DerRevolutionär
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