Die Eigenartigkeiten der russischen Oktoberrevolution

Lenin, Mitte rechts, zusammen mit Mitgliedern der neu gebildeten bolschewistischen Regierung unmittelbar nach der Oktoberrevolution und der Machtübernahme. Die große Mehrheit der Massen, die Landbevölkerung, musste erst noch „ins Boot“ geholt werden I ArchivPhoto

Die hervorstechendste Eigenart dieser Revolution war ihre Nonkonformität. Bezeichnet man die bürgerliche Revolution in Frankreich am Ende des 18. Jahrhunderts im bürgerlichen Kontext als klassische, so kann man die russische Revolution nicht so ohne weiteres im proletarisch-marxistischen Kontext als klassische glorifizieren.

 

Heinz Ahlreip – Autor I Redaktionsbeirat

Der weltgeschichtliche Gehalt dieser Revolution liegt in der Tatsache, dass in ihr die in Russland am meisten ausgebeutete Klasse die Macht in ihre Hände genommen hatte. Der nicht von fremder Arbeit lebende Arbeiter litt mehr als der aus einer anderen Klasse kommende Bauer, der fast die absolute Mehrheit der Bevölkerung bildete. So sehr man auch den Bruch zwischen dem 19. und dem 20. Jahrhundert, zwischen dem klassischen und dem imperialistischen Kapitalismus betont, das geschichtliche Revolution tragende Gewicht von den beiden deutschen Klassikern auf Lenin verschiebt und ihn zur dominierenden Figur der Revolutionspraxis vereinnahmt, es bleibt ein eklatanter Bruch zwischen marxistischer Theorie und leninistischer Praxis.

Der die Diskrepanz verbindende zusammenhaltende Brückenbegriff ist der der Ungleichmäßigkeit, der Ungleichmäßigkeit sowohl der ökonomischen als auch der politischen Entwicklung.  Lax formuliert: Im Gegensatz zum 19. Jahrhundert der gleichmäßigen Entwicklung sei das 20. eines der Brüche, Krisen, Sprünge Risse, Katastrophen und Kriege. Dabei war die ganze Atmosphäre um 1917/18 weltrevolutionsschwanger. Dem endlichen Durchbruch in Russland korrespondierte ein zu Ende gehender Weltkrieg, der den Völkern Waffen in die Hand gegeben hatte. Aber der Funke sprang nicht über. 

So muss es sich die Oktoberrevolution gefallen lassen, mit den anders gearteten theoretischen Wurzeln zum Zeitpunkt der 48er Revolution konfrontiert zu werden. Russland war 1917 ein Bauernland, das ist das Erste, was bitter aufstößt. Marx und Engels hielten eine in Russland singulär bleibende Revolution erfolgsmäßig für aussichtslos, wenn nicht der fortschrittlichere Westen sekundiert.   Das unterblieb bekanntlich. Es fand ein regelrechter Zitatenkrieg um den Kurs der Sowjetunion statt,

…immer wieder zitierten diejenigen, die Stalin und seinen Anhängern nicht folgen wollten Engels, dass eine proletarische Revolution nur in den hochindustrialisierten Ländern auf internationalem Terrain stattfinden könne.

Daran klammerten sich die Gegner Stalins, bis dieser (Stalin) ausrief: ‘Wenn Engels unsere sozialistische Revolution sähe, würde er ausrufen: Zum Teufel mit meinen alten Formeln, es lebe die sozialistische Revolution in der UdSSR!

So war es also 1917 zu einer ganz eigenartigen Konstellation gekommen, Russland ökonomisch rückschrittlich, politisch fortschrittlich und bei den westlichen Industrieländern verhielt es sich ohne Sowjets genau umgekehrt. Im Manifest sprachen   Marx und Engels von einer Revolution der großen Mehrheit gegen eine kleine Minderheit von kapitalistischen Ausbeutern. In Russland stellt die Arbeiterklasse eine winzige Minderheit der Bevölkerung, Lenin sprach von einem Tropfen im Ozean. Jede Auseinandersetzung mit der Oktoberrevolution hat das zu vergegenwärtigen, dass sie in einem aus Bauernmassen bestehenden Ozean wogte.  Tropfen ist Tropfen, da hilft keine dialektische Äquilibristik. Die dialektische Methode kann auch von Bauchrednern der Dialektik dazu missbraucht werden, das Disparateste  zusammenzureden Es ist besonders anerkennenswert, dass es angesichts dieser grauenvollen Konstellationen den Bolschewiki gelang, binnen weniger Wochen aus einer illegalen Partei zur führenden Kraft des Landes zu werden.  Eine ihnen entsprechende Partei gab es in Westeuropa nicht. Aber diese Einzigartigkeit und die geniale Größe Lenins können nicht die Eigenartigkeiten der Revolution kompensieren. 

Eine weitere Eigenart kommt hinzu, dass die proletarische Revolution auf ein Land beschränkt blieb und dass diese Revolution damit eindeutig gegen die Bestimmungen der Revolution von Engels als einer internationalen aus dem Jahr 1847 verstieß. Die russische Revolution blieb eine isolierte, weil es den westeuropäischen kapitalistischen Klassen gelang, den Krieg zu beenden und die Revolution hinauszuschieben. Somit ist festzuhalten, dass die russische Revolution gegen die auf internationalistischen, fortschrittlichen Fundamentalismen hingerichteten gegenteilig verstieß.

Eine national bleibende Revolution in einem rückständigen Bauernland, so hatte kein Kommunist außer Lenin vor der Oktoberrevolution gedacht und sie erwartet.

Dieser sah zwar eine nationale Revolution in groben Umrissen, nannte aber nie sich festlegend Russland. Gerade dieser Würfel fiel in einer Weltkriegsendstimmung mit Friedensperspektive so sonderbar bzw. er wurde von den Bolschewiki so sonderbar ins Weltgeschehen hineingeworfen, so sonderbar, dass wiederum nicht mal eine rein nationale Revolution vorlag. Das Kapital ist eine internationale Macht und es kann in einem einzelnen Land überhaupt nicht besiegt werden
(Vergleiche Lenin, Rede auf dem IV. Gesamtrussischen Verbandstag der Bekleidungsarbeiter, Werke, Band 32, Dietz Verlag Berlin, 196,106).

Solange die Produzenten nicht die Produktion beherrschen, kann eine historische Entwicklung immer querbeet verlaufen. Dieser Gedanke gehört zur Oktoberrevolution unbedingt dazu, deren internationales Umfeld sich größtenteils aus Kolonien bildete, die von den westlichen industriell hochentwickelten Kernländern ausgebeutet wurden und die laut Lenin auf einem Vulkan saßen.
(Vergleiche Lenin, Rede auf der erweiterten Moskauer Metallarbeiterkonferenz 4. Februar 1921, Werke, Band 32, Dietz Verlag, Berlin, 1960,101)  

Kann man von einer anfänglichen Verschrobenheit der Revolution sprechen, die anfangs vielleicht sogar vorliegen muss als Element des Bizarren, das jeder Revolution eignet, bis die Bürokraten der Revolution zu eindeutigen, unbezweifelbaren Parolen zu glätten anfangen? Keiner kann heute behaupten: Von der Sowjetunion lernen, heißt siegen lernen. 

Das russische Proletariat stellte damals ganz eindeutig die Minderheit der Bevölkerung, war aber gewerkschaftlich fast vollständig organisiert, so dass ein falsches Herangehen an die Gewerkschaftsfrage zum Sturz der Diktatur des Proletariats führen konnte. Die Gewerkschaften bildeten das Reservoir der Staatsmacht, eine Schule des Wirtschaftens und des Kommunismus. Der für Russland zentralen gewerkschaftlichen Thematik hat Lenin am 25. Januar 1921 im Zusammenhang mit der Parteidiskussion eine Broschüre gewidmet, die er »Noch einmal über die Gewerkschaften und die Fehler Bucharins und Trotzkis« betitelte. 

Es wurde bereits erwähnt, dass die Bauern eine andere Klasse bildeten als das Proletariat. Die Sowjetrevolution auf dem Land fand erst ein Jahr nach der Oktoberrevolution im Herbst 1918 statt. Der Bauer behielt per Gesetzeskraft sein Land, so dass er vor einer Kollektivierung die Macht hatte, auf Grund seines Getreidemonopols alle Russen zu knechten. Im Austausch gegen Industrieprodukte saß der Bauer in der Vorhand. Der Ozean war mächtiger als der Tropfen.  Es verstehts sich von selbst, dass die richtigen Beziehungen zu den ungeheuren Bauernmassen lebenswichtig waren. Es galt, das einfache Landproletariat und die Kleinbauern zu einigen, denn nur durch proletarisch-bäuerlichen Zusammenschluss konnten imperialistische Invasionsversuche paralysiert werden.  In Ungarn mit zahlenmäßig ausgeglichenem Verhältnis zwischen Stadt und Dorf misslang das und die ungarische Rätemacht brach nach wenigen Wochen (ausgerufen am 21. März 1919) zusammen, und zwar am 1. August.  Nur wenn sich der Ozean nicht gegen den Tropfen erhebt, konnten die bewaffneten imperialistischen Feinde das neue junge Russland nicht niederwerfen. Das Schicksal der jungen Sowjetmacht hing oft an einem seidenen Faden.  Auch wenn die Zahlenverhältnisse nicht so extrem sind wie in Russland am Ausgang des ersten Weltkrieges, überall in der Welt werden die Proletarier ohne Bauern geschlagen. Die Imperialisten waren 1917 militärisch überlegen und sie sind auch heute überlegen, sie waren 1917 uneins und sind es auch heute wegen der Teilung der Beute. Spaltung reduziert Stärke einerseits, die Kleinbauern und das Landproletariat bilden die Mehrheit der Bauern, erhöhen die Stärke andererseits. 

Unbedingt muss aber die rote Partei als gestählte Vorhut die Führung innehaben, denn Krieg und Bürgerkrieg erfordern staatlichen Zwang. Wer das Proletariat ohne marxistisch-leninistische Kaderpartei in den unvermeidbaren Bürgerkrieg gegen das Kapitalistenpack hineinreißt, lässt das stolze Schiff der Revolution ohne Kapitän in es erbarmungslos verschlingende Hochwellen hineintaumeln, des Unterganges gewiss. 

Der Kapitalismus lässt sich heute auf zwei Arbeiterschultern von Verrätern tragen, den sozialdemokratischen Opportunisten in den kommunistischen und sozialdemokratischen Parteien und von den entarteten speichelleckenden auf Privilegien bedachten Bonzen in den DGB-Gewerkschaften. Die doppelte Entlarvungsarbeit gehört heute zum Aufgabenkernbereich kommunistischer Parteien. 

 

Daher kämpfen Marxisten-Leninisten
heute an zwei Fronten:

Den Kampf gegen den Kapitalismus
und den Kampf gegen falsche „Freunde“

 

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Über Heinz Ahlreip 99 Artikel
Heinz Ahlreip, geb. am 28. Februar 1952 in Hildesheim. Von 1975 bis 1983 Studium in den Fächern Philosophie und Politik an der Leibniz Universität Hannover, Magisterabschluss mit der Arbeit »Die Dialektik der absoluten Freiheit in Hegels Phänomenologie des Geistes«. Forschungschwerpunkte: Französische Aufklärung, Jakobinismus, Französische Revolution, die politische Philosophie Kants und Hegels, Befreiungskriege gegen Napoleon, Marxismus-Leninismus, Oktoberrevolution, die Kontroverse Stalin – Trotzki über den Aufbau des Sozialismus in der UdSSR, die Epoche Stalins, insbesondere Stachanowbewegung und Moskauer Prozesse.

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