Der deutsche Imperialismus stellt die derzeitige Aufrüstung, Militarisierung und seine zunehmend aggressive Außen- und Innenpolitik gerne als Reaktion auf den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine dar. Tatsächlich ist die Rückkehr Deutschlands zur europäischen Führungsmacht jedoch schon seit Jahrzehnten in Planung. So forderte ein Papier des Think Tanks »Stiftung Wissenschaft und Politik« bereits 2012 Maßnahmen, die jetzt, nach der „Zeitenwende”, zu Eckpfeilern der deutschen Politik geworden sind. Wer ist diese Stiftung und woher kommen ihre „prophetischen” Fähigkeiten in Bezug auf die Politik?
Von Rudolf Routhier | Fast ein Jahr lang tagte eine einflussreiche Gruppe aus Politikern, Kapitalisten, Journalisten und Akademikern und erarbeitete zusammen ein Papier, das auf eine stärkere deutsche Beteiligung an militärischen Aktionen drängte. Deutschland müsse seiner Verantwortung gerecht werden und zunehmend unabhängig von den USA als Führungs- und Militärmacht agieren. Passenderweise hieß das Papier dann auch „Neue Macht – Neue Verantwortung”.
Veranstalter waren die „Stiftung Wissenschaft und Politik” (SWP) sowie der „German Marshall Fund” (GMF) – eine Organisation, die sich der „Förderung der transatlantischen Beziehungen”, sprich der Zusammenarbeit zwischen Deutschland und den USA widmet. Zu den von der Organisation geförderten Personen gehören heute unter anderem Bundesaußenministerin Annalena Baerbock, Landwirtschaftsminister Cem Özdemir, die Wehrbeauftragte Eva Högl oder Thorsten Albrecht, hochrangiger Funktionär bei IG Metall.
Sonst bei der Erstellung mit dabei waren Vertreter aller Bundestagsparteien, großer Zeitungen und die Bertelsmann Stiftung, die wenige Jahre zuvor durch die Förderung des bis dahin weniger bekannten SPD-Politikers Thilo Sarrazin die ideologische Grundlage für die AFD gelegt hatte.
Strategie für einen „Neuen” deutschen Imperialismus
In dem Papier wurden die außenpolitische Lage bewertet und davon ausgehende Empfehlungen an die Regierung gerichtet:
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Deutschland, dessen “Unternehmen auf allen Kontinenten operieren”, würde wie kaum ein anderes Land von der Globalisierung profitieren. Deutschlands Macht und Einfluss beruhe zu großen Teilen darauf, dass es “aufsteigende Nationen als neue Export- und Investitionsmärkte erschlossen” habe. Dadurch habe es „hohe Gewinne” erzielt.
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Deswegen müsse es in Zukunft seine Macht und Einfluss selbstbewusster und unabhängiger nutzen, um diesen Status quo mit seinem Zugang zu Rohstoffen und Handelswegen zu verteidigen.
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Das Bündnis mit den USA, Israel und den anderen NATO- und EU-Staaten müsse mit diesem Ziel gestärkt werden, auch ein „enges und stabiles Verhältnis” zur Türkei sei erstrebenswert. Die EU müsse ihren Einfluss im Balkan und Süd- wie Osteuropa ausweiten und auch als Regionalmacht agieren, um dort die Entwicklung hin zur „Stabilität und Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Marktwirtschaft” zu gewährleisten.
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Potentielle „Störer” oder „Herausforderer” der bestehenden Internationalen Ordnung wie Russland, China, Indien, Brasilien oder der Iran sollten möglichst politisch eingebunden werden, Notfalls müsse man sich aber auch die „gesamten Palette der außenpolitischen Instrumente bedienen, von der Diplomatie über die Entwicklungs- und Kulturpolitik bis hin zum Einsatz militärischer Gewalt” zum „Schutz der internationalen Ordnung”. Auch könnten „regionale Gegengewichte” gegen potentielle „Störer” geschaffen werden.
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Die Zentralisierung der zivilen, militärischen und polizeilichen Sicherheitsorgane in Deutschland und der Aufbau einer gesamteuropäischen Küstenwache und Rüstungsindustrie wäre im “deutschen Interesse”.
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Innenpolitisch müsse der neue Kurs gegen oppositionelle Gruppen verteidigt werden. So steht im Papier: “Die Legitimität und Strahlkraft des westlichen Modells beruht nicht zuletzt darauf, dass es auch zuhause entschlossen gegen Anfechtungen verteidigt wird”.
„Zeitenwende” früh vorbereitet
Auf den ersten Blick ist das alles erst einmal nicht so ungewöhnlich. Ganz im Gegenteil. Seit dem Einmarsch Russlands in die Ukraine und der „Zeitenwende”-Rede von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) gehören solche, wie in dem Papier propagierten, Forderungen nach Militarisierung und Großmachtsambitionen zum guten Ton unter den Herrschenden. Man findet sie in den Reden von Lars Klingbeil (SPD) und Annalena Baerbock genauso wie auf den Titelseiten der bürgerlichen Zeitungen und im Positionspapier zur Außenpolitik der SPD.
Mit Aufrüstung und Dominanz in der EU will die SPD, dass Deutschland „Führungsmacht“ wird
Vieles, was das Papier vorschlägt – beispielsweise die Zentralisierung der Bundeswehr und der EU Streitkräfte – wurde oder wird sogar bereits umgesetzt. Ungewöhnlich ist lediglich das Datum der Veranstaltung. Es war der November 2012 bis September 2013, also vor rund zehn Jahren. – War die kürzliche Kriegshysterie der Herrschenden denn nicht angeblich die Reaktion auf den Krieg in der Ukraine, der die Aufrüstung als sicherheitspolitische Notwendigkeit erscheinen ließ?
Dieser Krieg lag 2013 jedoch noch in weiter Ferne. Selbst Euro-Maidan und der ukrainische Bürgerkrieg lagen noch in fernerer Zukunft. Wie kann es dann sein, dass einflussreiche Personen aus Wirtschaft, Politik und Medien bereits 2013 die Maßnahmen forderten, die angeblich erst als Reaktion auf den russischen Angriffskrieg entstanden und umgesetzt wurden?
Um die unheimliche, prophetische Gabe des Projekts „Neue Macht – Neue Verantwortung” zu verstehen, lohnt es sich, einen Blick auf Veranstalter und Herausgeber zu werfen, die “Stiftung Wissenschaft und Politik”.
BND, CIA und die Nazis
Die SWP ist einer der einflussreichsten deutschen Think Tanks und „berät” Politiker und Medien in wichtigen politischen Fragen. Auch werden ihre Publikationen gezielt an führende Köpfe in der Politik, Medien, Wissenschaft und Wirtschaft versandt.
Think Tanks, auch Denkfabriken genannt, sind Institutionen, die sich der Erforschung und Beeinflussung der öffentlichen Meinung widmen.
Dort werden unter Führung von Kapitalisten und Politiker Stimmungen in der Öffentlichkeit untersucht und – beispielsweise durch Medienkampagnen, Einflussnahme in der Staatsverwaltung oder finanzieller Förderung bestimmter Gruppen – in die für die Herrschenden passenden Bahnen gelenkt. Dies wird heutzutage auch als „Political Engineering” bezeichnet. Der große Vorteil der SWP ist, dass sie, anders als viele andere Think Tanks, eine halbstaatliche Institution ist: sie muss also nicht einmal von außen Einfluss auf die Politik nehmen, sondern sitzt gleich selbst mittendrin.
Die Stiftung wurde 1962 auf Initiative von Klaus Ritter gegründet. Ritter selbst hatte zu diesem Zeitpunkt schon eine mehr als fragwürdige Karriere hinter sich: Während des Zweiten Weltkrieges gehörte er dem Militärgeheimdienst „Fremde Heere Ost” an, dessen Aufgabe es war, die Sowjetunion auszuspionieren. Nach dem Untergang der Nationalsozialistischen Diktatur retteten ihn, wie so viele andere Nazis, die USA und später die BRD vor der drohenden Arbeitslosigkeit.
Zusammen mit seinem Kollegen Reinhard Gehlen war er Gründungsmitglied der „Organisation Gehlen”, dem Vorläufer des deutschen Auslandsgeheimdienstes „Bundesnachrichtendienst”. Geld und Auftraggeber der Organisation waren zuerst die US Army, dann die CIA und schließlich die Bundesregierung. Zwar waren viele Mitglieder ehemalige SS-, SD-, Gestapo-, Wehrmachts- oder NSDAP-Mitglieder, aber ihre Erfahrungen mit Spionage in der Sowjetunion und ihr fanatischer Antikommunismus waren bei der „Abwehr der kommunistischen Gefahr” im Aus- und Inland mehr als nützlich.
Die Organisation Gehlen bildete fleißig Saboteure, Spione und „Subversive Elemente” für den Einsatz in sozialistischen Ländern aus, packte Kommunsten, Arbeiter und jeden anderen Menschen, der als zu „links” galt, auf schwarze Listen und in Sonderkarteien für Feind-Agenten und organisierte „Stay behind”-Gladio-Truppen. Auch eine besondere Professorengruppe für Ostforschung – unter anderem mit dem Kriegsverbrecher und späteren Bundesminister für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte, Theodor Oberländer – wurde gegründet. Die Gruppe, ihre Ansichten und „Ergebnisse” prägen die Erforschung der Sowjetunion bis heute.
Auch Klaus Ritter selbst machte sich sofort fleißig an die Arbeit und legte unter anderem für die CIA ein Dossier über „linke” Journalisten in der BRD an, in dem er eine strengere Kontrolle und Überprüfung der Redaktionsstäbe deutscher Zeitungen forderte. So viel Loyalität zahlte sich aus: 1959 ging er als Harvard-Stipendiat in die USA und traf dort unter anderem den US-Außenpolitiker und Kriegsverbrecher Henry Kissinger. Auch durch die Gespräche mit Kissinger lernte Ritter den „Think Tank” kennen und lieben.
Der erste deutsche Think Tank
Für Ritter war klar: So etwas muss es auch in Deutschland geben. Natürlich möglichst außerhalb der Kontrolle des – zumindest offiziell – von der Bevölkerung gewählten Bundestags und -rats: Undemokratisch, klandestin (Anmerkung d. Red.: unauffällig – heimlich), antikommunistisch und vor allem unter der Führung von Geheimdienst und Großindustrie, so mochte Ritter seine Organisationen.
1962 gründete er, mit großzügiger Unterstützung durch Industriespenden, die Stiftung Wissenschaft und Politik als Abteilung des BND’s mit ihm, Klaus Ritter, als Direktor. Zu den Unterstützern der ersten Stunde gehörten unter anderem die Deutsche Bank und die Commerzbank, die „Wirtschaftsvereinigung Eisen- und Stahlindustrie” sowie ein Mitarbeiter der Flick KG. Die erste deutsche Denkfabrik war offiziell geboren.
Hier trafen sich fortan Vertreter aus Industrie, Politik, Medien und Geheimdiensten und besprachen ihre nächsten Ziele und deren Umsetzung. 1965 wurde die Stiftung offiziell unabhängig vom BND, der Beauftragte für Nachrichtendienste ist allerdings bis heute Teil des Stiftungsrats. Diese Zusammensetzung sorgt dafür, dass getroffene Entscheidungen über Medien und Hörsäle blitzschnell in weite Teile der Bevölkerung getragen werden können. Ritter leitete die Stiftung jahrzehntelang, erst 1988 ging er in den Ruhestand.
„Diskurs der Eliten”
Ihm folgte der Journalist Michael Stürmer. Verglichen mit Ritter eine eher unscheinbare Figur, aber dennoch ein treuer Anhänger des Kapitalismus. In der Dissertation des Medienwissenschaftlers Uwe Krüger, der 2013 den Einfluss von Wirtschaft und Politik auf die deutschen Leitmedien untersuchte, wurde Stürmer zu einem der am stärksten mit der „herrschenden Elite” vernetzten Journalisten gerechnet.
Stürmer, der unter anderem in leitenden Funktionen für die Frankfurter Allgemeine Zeitung, die Welt und Deutschlandfunk tätig ist oder war, würde insbesondere im Themenbereich Militär, Sicherheitspolitik und Auslandseinsätze der Bundeswehr den „Diskurs der Eliten” abbilden und ihre Positionen, Argumente und Ansichten propagandistisch bewerben, vertreten und aufbereiten.
Kurz gefasst kam er in seiner Dissertation zu dem Fazit, dass sich innerhalb von Politik, Wirtschaft und Medien eine „geschlossene Gesellschaft” herausgebildet habe, die aus genau diesem Grunde unfähig sei, im Interesse der Mehrheit der Bevölkerung „kritisch-kontrollierend” zu agieren. Dies läge unter anderem an der Verstrickung von Journalisten mit diversen Think Tanks.
Die Organisation Gehlen bildete fleißig Saboteure, Spione und „Subversive Elemente” für den Einsatz in sozialistischen Ländern aus, packte Kommunsten, Arbeiter und jeden anderen Menschen, der als zu „links” galt, auf schwarze Listen und in Sonderkarteien für Feind-Agenten und organisierte „Stay behind”-Gladio-Truppen. Auch eine besondere Professorengruppe für Ostforschung – unter anderem mit dem Kriegsverbrecher und späteren Bundesminister für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte, Theodor Oberländer – wurde gegründet. Die Gruppe, ihre Ansichten und „Ergebnisse” prägen die Erforschung der Sowjetunion bis heute.
Auch Klaus Ritter selbst machte sich sofort fleißig an die Arbeit und legte unter anderem für die CIA ein Dossier über „linke” Journalisten in der BRD an, in dem er eine strengere Kontrolle und Überprüfung der Redaktionsstäbe deutscher Zeitungen forderte. So viel Loyalität zahlte sich aus: 1959 ging er als Harvard-Stipendiat in die USA und traf dort unter anderem den US-Außenpolitiker und Kriegsverbrecher Henry Kissinger. Auch durch die Gespräche mit Kissinger lernte Ritter den „Think Tank” kennen und lieben.
Geführt durch Kapitalverband
2020 wurde mit Stefan Mair ein ehemaliges Mitglied der Hauptgeschäftsführung des „Bundesverbands Deutscher Industrieller” (BDI) – Spitzenverband der deutschen Groß- und Monopolkonzerne – Direktor. Neben dem Direktor und dem offiziellen Stiftungsrat gibt es noch das „Forum Ebenhausen – Freundeskreis der Stiftung Politik und Wissenschaft e.V.”, das eng mit der Stiftung zusammenarbeitet. Hier haben die meisten deutschen Monopolkonzerne ihre ständige Vertretung.
Mit dabei sind unter anderem „AIDA Cruises”, „Allianz Deutschland”, „BMW”, „Daimler”, „Deutsche Bahn”, „Deutsche Shell Holding”, „Deutsche Telekom”, „Bosch”, „Schaeffler”, „Siemens”, „Voith” oder „Volkswagen”. Der Zweck des Forums, so „Lobby Control e.V.”, sei die strategische Einflussnahme auf politisch relevante Akteure. Politiker, meinungsbildende Medien, politikberatende Wissenschaft und junge Nachwuchskräfte.
Demokratie heißt Herrschaft der Think Tanks?
In Anbetracht von all dem wirkt die „Zeitenwende”-Rhetorik der Stiftung im Jahre 2013 gleich viel weniger futuristisch. Als Institution ist es gerade ihre Aufgabe, der Zeit voraus zu sein, sich auf eine Position wie die „Zeitenwende” zu einigen und sie zu verbreiten.
Schon kurz nach der Veröffentlichung des Papiers zitierten Walter Steinmeier, Ursula von der Leyen und der damaligen Bundespräsident Joachim Gauck frei aus dem Papier und auch in der Koalitionsvereinbarung der CDU, CSU und SPD, die im November 2013 erschien, ist sein Einfluss spürbar. Der Ton in den herrschenden Kreisen wurde schon seit langem zunehmend martialischer. Der Ukraine-Krieg gab dann lediglich noch die Rechtfertigung, die Rückkehr zur Führungsmacht zur offiziellen Linie der Regierung zu machen.
Die Frage, die sich bei all dem unweigerlich stellt, ist, wessen von der Regierung und der SWP vielbeschworene, Freiheit und Demokratie genau wir denn jetzt verteidigen sollen, wenn selbst Entscheidungen über Krieg und Frieden bereits Jahre vorher bei den Hinterzimmergesprächen der herrschenden Klasse gefällt werden?
In Verbindung mit den Aktivitäten der Think-Tanks sollte auch dieser Artikel gelesen werden:
Erstveröffentlichung am 10. April 2023 auf PERSPEKTIVE
Bilder und Bildtexte wurden z.T. vom Magazin DerRevolutionär hinzugefügt
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Für den Inhalt dieses Artikels ist der Autor verantwortlich.
Dabei muss es sich nicht grundsätzlich um die
Meinung der Redaktion des Magazins handeln.
DerRevolutionär
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